Eine andere Sicht auf die Dinge
Eine Picknickdecke, die eine ansonsten schwer bewachte Grenze überwindet. Auf der einen Seiten haben sich Mexikaner um einen Tisch mit einem Auge versammelt, auf der anderen Seite US-Amerikaner, dazwischen: die Mauer. Und von oben herab blickt ein riesengroßes Baby namens Kikito. Was wie eine surrealistische Malerei aussieht, ist tatsächlich genau so passiert. JR machte es möglich. "Zu ändern, wie wir Dinge sehen, bedeutet bereits, die Dinge selbst zu ändern", so JR zu seinem Werk.
Expo 2 Rue: Die Straße als Galerie
Wer ist dieser JR? Man könnte ihn als den Banksy der Fotografie bezeichnen, denn genauso wie jener, will auch dieser anonym bleiben. Aber nicht nur das haben die beiden Künstler gemeinsam: Für beide ist die Straße ihre Galerie und im Zentrum steht die Frage: Kann Kunst die Welt verändern? Für JR gilt dies bestimmt schon. Mit seinen unglaublichen Projekten wie Expo 2 Rue, Porträt of a Generation, Wrinkles of the City, Inside Out, Kikito, Chroniques de Clichy-Montfermeil, San Francisco and New York City hat er auf jeden Fall die Welt schon jetzt verändert.
Aber auch JR hat einmal klein angefangen: Berühmt wurde er durch Fotografien unbekannter Personen, die er in riesigen Formaten auf Häuserfronten, Eisenbahnzüge, Containerschiffe oder gar Grenzmauern auf der ganzen Welt plakatierte. Der Künstler wuchs quasi mit seinem Werk, denn längst ist er nicht nur in seiner Heimat Frankreich ein gefragter Konzeptionist. In vorliegendem Band sind u. a. die Plakatierung der Mauer zwischen Israel und Palästina, ein Kulturprojekt in einer Favela in Rio de Janeiro, ein Wandbild über Waffen in Amerika sowie eine riesige Installation am Grenzzaun zwischen den USA und Mexiko zu bestaunen. JR widmet sich stets den Menschen eines bestimmten Ortes, denen er auf ebenso scharfsinnige wie einfühlsame Weise Sichtbarkeit verleiht und so strahlte selbst im kommunistischen Kuba einmal ein Jedermann von den Plakatwänden statt den üblichen Fidels und Ches. In Tunesien führte er ähnliches Projekt nach dem arabischen Frühling durch, als der Langzeitpräsident Ben Ali gestürzt wurde. Plötzlich waren Porträts ganz gewöhnlicher Menschen auf Plakatwänden zu sehen und nicht mehr der absolutistische Herrscher.
Fotografie ohne Grenzen
JRs Porträts zeigen stets "Menschen, die danach streben, die Poesie in den Zement zurückzubringen", schreiben Sawyer/Atkins in ihrem Vorwort, wohl in Anlehnung an den Slogan des Pariser Mai "Sous les pavés, la plage" (Unter den Pflastersteinen der Strand). JR hat mit seinem Werk die (Porträt-)Fotografie des 20./21. Jahrhunderts zweifellos auf eine neues, höheres Niveau gehoben und demokratisiert. Seine Idee, dass jeder Mensch auf ein Transparent passt, zeigt nicht nur die Vielfältigkeit der Menschheit, sondern bricht auch herkömmliches Denken und damit verbundene Herrschaftsmechanismen auf. "Para sonar la vida abre los ojos" steht auf einer Wand in Trujillo, Peru, daneben die Porträts von Frauen aller Altersklassen. Bei oben eingangs erwähntem Projekt an der mexikanisch-amerikanischen Grenze war sich JR bis zuletzt nicht sicher, ob es klappen würde, aber ein Grenzbeamter drückte für ein paar Tage beide Augen zu und so konnte das Unglaubliche Wirklichkeit werden. "Man muss es einfach versuchen", meint JR, "Versuchen und vielleicht scheitern. Aber wenn es gelingt, dann zeigt es vielleicht eine andere Sicht auf die Dinge als die, die man erwartet hat. Und es zeigt, dass die Grenzen nicht unbedingt dort verlaufen, wo man sie vermutet." Eine andere Aktion, die JR wiederum in Paris durchführte, stellt den Bezug zu Banksy wieder her. Aus einer riesigen, rot umrandeten Luke an der Fassade eines der Gebäude der Bibliothèque Nationale de France kommt ein überdimensionales Fax herausgeschossen, das eine auf den Kopf gestellte Frau zeigt. Der Shredder (Banksys Kunstauktionsaktion) ist dann wohl die Zeit, die das Plakat mit der Zeit verwittert. Ebenso wie die Porträts auf den Stiegen der Favelas in Rio de Janeiro. Kunst kann also die Welt verändern und sogar zu einem besseren Platz - nicht nur für Künstler - machen.
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