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Joschka Fischer: Die rot-grünen Jahre

Die Rückkehr des Joschka F.

Joschka Fischers Erinnerungen an seine Amtszeit als deutscher Außenminister und Vizekanzler geben einen tiefen Einblick in die nationalen und internationalen Geschehnisse der rot-grünen Regierungsjahre sowie in das Innenleben eines getriebenen Antreibers.

Biografien und Memoiren sind inzwischen fester Bestandteil jeder Politikerkarriere. Dabei gilt scheinbar der Grundsatz: Je wichtiger das Amt und je ereignisreicher die Amtszeit, desto Hände ringender wird der schriftliche Nachlass der einzelnen Lichtgestalten erwartet. Das Ganze scheint dann umso spannender, wenn ein Mensch im Mittelpunkt des Interesses steht, an dem sich die Geister scheiden. Dies gilt für Joschka Fischer ohne Zweifel. Als ehemaliger Außenminister und Vizekanzler hat er die Politik der ersten rot-grünen Regierungskoalition auf Bundesebene entscheidend mit beeinflusst. Und so war es nicht verwunderlich, dass auf der Pressevorstellung des ersten Teils seiner Memoiren als Vizekanzler im Oktober kein Stuhl unbesetzt blieb. In Anbetracht des vorzustellenden Werkes war dieses Interesse auch nicht ganz unberechtigt.

Mit "Die rot-grünen Jahre" hat der ehemalige Bundesaußenminister die Basis für die Darstellung seines außenpolitischen Vermächtnisses gelegt. Mit dem 444 Seiten starken Werk beleuchtet und deutet Joschka Fischer die nationalen wie internationalen Herausforderungen während der ersten Legislaturperiode der rot-grünen Ära - einer Zeit, die außenpolitisch ganz unter dem Einfluss der Kosovo-Krise und der EU-Osterweiterung gestanden hat. Beginnend mit dem Wahlkampf für die Bundestagswahlen 1998 nimmt Fischer den Leser dabei mit auf eine spannende Reise in die Welt der kleinen und großen Diplomatie, die im ersten Band mit den terroristischen Anschlägen auf die Vereinigten Staaten von Amerika vorerst ihr Ende findet. Darin eingebettet finden sich die einschneidenden innenpolitischen Ereignisse und grüneninternen Debatten während der ersten Legislaturperiode der rot-grünen Regierungskoalition. Ende diesen Jahres will Fischer mit dem zweiten Band seine Memoiren abschließen.

Und natürlich beschreibt der Meister der Selbstinszenierung in seinen Erinnerungen exzellent, wie er zwischen den verschiedenen nationalen und internationalen Gremien hin- und herpendelt, dabei sowohl die parteiinternen, die koalitionsinternen, die nationalen wie auch die internationalen Ansprüche zu berücksichtigen versucht, zugleich an verschiedenen Fronten kämpft und Niederlagen ebenso einstecken muss wie er Erfolge verbuchen kann. Es wirkt schon beeindruckend, wie er die unterschiedlichen Rollen als oberster Grüner, Vizekanzler, Außenminister und oberstem Diplomaten zu vereinen suchte. Doch unweigerlich werden auch der Zwiespalt und zuweilen auch der Verdruss Joschka Fischers über diese permanente Zerreißprobe zwischen politischer Weltbühne, nationalem Polittheater und parteiinternen Ränkespielen deutlich. So entsteht vor dem Auge des Lesers ein Ausschnitt des Lebens von Joschka F., der irgendwie zwischen Parteilinie, internationalen Verpflichtungen und persönlichen Loyalitäten gefangen wirkt und doch meist einen Ausweg zu finden scheint.

Im Laufe des Buches lernt der Leser viel über den Außenminister und grünen Spitzenpolitiker. Dass ausgerechnet auf seine Partei die Bewältigung der Kosovo-Krise zugekommen ist, der letztlich nur durch die Beteiligung deutscher Truppen am Kriegseinsatz der NATO beizukommen war, beklagt Fischer mehr als einmal in seinem Buch. Im Zentrum steht dabei der Parteitag der Grünen in Bielefeld, auf dem über diese Beteiligung und damit über den erstmaligen militärischen Einsatz deutscher Soldaten im Ausland seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges entschieden werden sollte. Das Stöhnen der grünen Basis, die innerparteilichen Diskussionen, das Beschimpfen seiner Person als Kriegstreiber, die Farbbeutelattacke - all das habe ihm persönlich zugesetzt und seine innere Distanz zu den Bundesgrünen nur vergrößert. "Diese Herrschaft des Wunsches über die Wirklichkeit", der "von Anbeginn an in der strukturellen Widersprüchlichkeit des grünen Projektes begründet" lag, hatte die Grenze zwischen dem Realisten Joschka Fischer und der grünen Partei unüberwindbar gemacht.

Die Ereignisse in Bielefeld hatten ihn wütend gemacht und zu seiner, nach eigener Einschätzung, besten politischen Rede angestachelt, so Fischer weiter. Dieses Plädoyer für eine verantwortungsvolle Friedenspolitik der deutschen Bundesregierung im Kosovo übernimmt dann auch eine zentrale Rolle in seinen Erinnerungen. Es ist kaum möglich, auf wenigen Seiten mehr über den Menschen Joschka Fischer, über sein Denken und sein Verhältnis zur grünen Basis zu erfahren, als in den Auszügen dieser Rede. Und auch noch im Nachgang steht Fischer zu seiner Entscheidung, den Militäreinsatz im Kosovo befürwortet zu haben. Als Rechtfertigung für die Unterstützung des NATO-Einsatzes im Kosovo zitiert Fischer die Grundwerte herbei: Viel zu lange habe man bereits während des Bosnienkrieges zugesehen, "wie sich Monat für Monat die Massengräber gefüllt hatten und ungeheuerliche Grausamkeiten" geschehen waren. Die bosnische Realität habe damals ebenso wenig dem grünen Programm entsprochen, wie es nun die Tatsachen im Kosovo taten, so Fischer. Seine Partei habe sich aber im Laufe der Regierungszeit an die neuen Verhältnisse angepasst und es verstanden, sich von dem blinden Pazifismus zu emanzipieren und sich einer aktiven und verantwortlichen Friedenspolitik zuzuwenden.

Und dennoch, am Ende sei er einfach nur noch müde gewesen, wund gerieben im "ewigen Kampf zwischen Illusion und Realität", wie er im Interview mit dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" gestand. Insofern hinterlässt er kein ungetrübtes Bild von seiner Partei und ihren Mitgliedern. Der Partei sei er "emotional nie nahe gewesen", erinnert sich Fischer. Wenig überraschend, bedenkt man, dass im Laufe seiner Karriere auch einige grüne Weggefährten auf der Strecke geblieben sind. Dies scheint in den Beschlüssen von Göttingen im vergangenen November gegen den Einsatz deutscher Tornados in Afghanistan seine verspätete Rache gefunden zu haben, wurde dort doch auch indirekt gegen Fischers Vermächtnis und die rot-grüne Ausrichtung deutscher Außenpolitik votiert. Der europäische Vorzeigegrüne und bekennende Fischer-Freund Daniel Cohn-Bendit bezeichnete die Abstimmungsergebnisse im daher auch als "Beerdigung von Joschka Fischer." Wer also eine Antwort auf die Frage sucht, warum die für beide Seiten so erfolgreiche, ja nahezu symbiotische Beziehung zwischen Fischer und seiner Partei vor zwei Jahren im einvernehmenden Verständnis und unter hörbarem Aufatmen auf beiden Seiten ihr Ende fand, bekommt diese in "Die rot-grünen Jahre" geliefert.

Jedoch gehören Querelen und Grabenkämpfe innerhalb politischer Parteien zum täglichen Einerlei. Und daher hatte es seine Richtigkeit, dass der ehemalige Außenminister gegenüber den sensationshungrigen Hauptstadtjournalisten betonte, dass sein Buch keine verspätete Abrechnung mit seinen politischen Gegnern sei. Statt schmutzige Wäsche zu waschen, begründet er größtenteils nur längst bekannte Einstellungen gegenüber den Wegbegleitern seiner Amtszeit. So schildert er zum Beispiel ausführlich, warum ihn Oskar Lafontaines Rücktritt als Finanzminister nicht nur politisch, sondern vor allem auch menschlich enttäuscht hat. Er beschreibt, warum sein Verhältnis zu dem damaligen Bundeskanzler und Regierungschef Gerhard Schröder alles andere als einen harmonischen Start gehabt hatte. Und er macht deutlich, warum ihn mit der ehemaligen amerikanischen Außenministerin der Clinton-Administration Madeleine Albright bis heute eine persönliche Freundschaft verbindet.

Immer wieder ruft er die eigene Biografie auf den Plan. Besonders eindringlich führte er sich diese an seinem 51. Geburtstag vor Augen. An diesem seinem Ehrentag saß er im Nato-Rat und musste über das weitere Vorgehen im laufenden Kosovokrieg mitentscheiden: "Meine Biographie zog an mir vorbei, der Frankfurter Sponti, Kommunarde, Straßenkämpfer, Taxifahrer, kurzzeitiger Landfreak, Buchhändler und schließlich der grüne Pazifist. Wie passte all dies zum heutigen Tag?" So wird dem Leser immer wieder der Mensch hinter dem Amt präsentiert, der von seinen Aufgaben geprägt wird und zugleich der Institution seinen Stempel aufdrückt.

Zuweilen plaudert Fischer auch aus der diplomatischen Schatzkiste und der geneigte Leser kann Einiges über die zuweilen verworrenen Wege der internationalen Diplomatie lernen. So herrscht auf diesem Gebiet offensichtlich nicht der sportliche Heimvorteil. Vielmehr verhält es sich so, dass kein Gastgeber das Scheitern einer internationalen Konferenz in seinem Land verantworten möchte und daher zugunsten eines Kompromisses lieber draufzahlt. Es wäre insofern vielmehr angebracht, von einem Gastgebernachteil zu sprechen. Oder man erfährt, dass Verhandlungsführer in Friedensverhandlungen manchen Kompromiss zwar befürworten, diesen aber aus Furcht um ihr Leben nicht eingehen, so geschehen mit dem Verhandlungsführer der albanischen Untergrundorganisation UÇK Hashim Thaçi 1999 während der Verhandlungen von Rambouillet. Und wer es noch nicht wusste, der erfährt auch, dass der ehemalige jugoslawische Präsident und serbische Kriegstreiber Slobodan Milosevic dem fassungslosen deutschen Außenminister ankündigte, dass die USA in Jugoslawien ein zweites Vietnam erleben würden. Welche diplomatischen Mühen die Bewältigung der akuten Balkankrise kostete, macht Fischer ausführlich in seinen Erinnerungen deutlich.

Auch mit seinen persönlichen Ansichten zu der nach wie vor prekären friedenspolitischen Situation im Nahen und Mittleren Osten hält er nicht hinterm Berg. Wer sich jedoch besonders für dieses Themenfeld interessiert, muss sich bis zum Erscheinen des zweiten Bands der Fischer’schen Erinnerungen gedulden. Im vorliegenden Buch leitet Fischer dieses Kapitel lediglich ein. Während einer Israelreise im Sommer 2001 kam es in einer Tel Aviver Diskothek zu einem Selbstmordanschlag, bei dem 21 Israelis und der palästinensische Selbstmordattentäter ums Leben kamen. Er sei damals "durch die Ereignisse als Akteur in diesen Konflikt hineingeschleudert worden", so Fischer in seinen Notizen. Bis zum Ende seiner Amtszeit sollte ihn dieser Konflikt nicht mehr loslassen und einen Großteil seiner zweiten Amtszeit prägen.

Zuweilen hat man beim Lesen der Fischer’schen Memoiren den Eindruck, dass Erinnerungen doch nur der Retrospektive, dem Blick nach hinten gelten. Mit der Erfahrung des Gewesenen wird dann lediglich versucht, Ordnung in das Chaos der Ereignisse zu bringen. Teilweise scheint sein Tun in den verschiedenen Gremien zu exakt aufeinander abgestimmt zu sein, als dass dies der Realität entsprechen könnte. Nicht dass er hier etwas erfinden würde - nein, das keinesfalls. Aber so mancher Zufall erscheint zu sehr als bewusst geplanter politischer Handlungsschritt, während die verschiedenen Herausforderungen, denen er sich Schlag auf Schlag stellen musste, eher an einen Getriebenen als an einen Treibenden denken lassen.

Nur selten misslingen dem sprachgewandten Minister a.D. einzelne Passagen, die dann etwas dröge und verstaubt oder allzu belehrend daherkommen. Insgesamt ist ihm aber ein durchaus lesenswertes und spannendes Werk gelungen, welches das rot-grüne "Generationenprojekt" nochmals gedanklich aufleuchten und vor dem inneren Auge vorbeiziehen lässt. Ganz nebenbei hat Fischer mit seinen Erinnerungen noch ein Lehrbuch der internationalen Diplomatie geschrieben, welches unter die Bretter der weltpolitischen Bühne blicken lässt, auf denen von der Tragödie über das Drama bis hin zur Komödie alle Formen des Theaters aufgeführt werden. Das Engagement, mit dem Fischer seine Erinnerungen aufgezeichnet hat, der Hang zur Genauigkeit, die Liebe zum Detail und seine Verpflichtung einer klaren Sprache gegenüber, lassen vermuten, dass das "Projekt Joschka F." noch lange nicht an seinem Ende angelangt ist. Eine Rückkehr in die nationale Politik kommt jedoch nicht in Frage. "Die Tür ist zu!", das gelte heute noch ebenso, wie bereits vor zwei Jahren, versicherte er der Hauptstadtpresse bei der Buchvorstellung. Inwiefern dies auch für die Bühnen der Europäischen Union oder der Vereinten Nationen gilt, kann nur gemutmaßt werden? Genaues weiß man nicht, doch ist ihm einiges zuzutrauen. Man darf gespannt sein - sowohl auf die Person Joschka Fischer als auch auf die Fortsetzung seiner Erinnerungen.

Diese Buchbesprechung ist ursprünglich im Titel-Magazin erschienen.

von Thomas Hummitzsch - 19. Januar 2008
Die rot-grünen Jahre
Joschka Fischer
Die rot-grünen Jahre

Deutsche Außenpolitik - vom Kosovo bis zum 11. September
Kiepenheuer & Witsch 2007
450 Seiten, gebunden
EAN 978-3462037715