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Jenny Erpenbeck: Heimsuchung

Eine Geschichte des Kommens, des Bleibenwollens und des Gehenmüssens

Heimsuchung lässt sich verschieden verstehen, als Suche nach Heimat, aber auch als schicksalshafte Prüfung durch äussere Umstände. Und genau diese Doppelbedeutung trifft den Kern dieses Buches: Im Mittelpunkt stehen Menschen mit Sehnsüchten und Wünschen, die nicht aus ihren Umständen hinaustreten können, da sie heillos mit ihnen verstrickt sind.

Es ist dieses Streben nach gesicherter Existenz und privatem Glück, das nur zu oft den Blick auf die Alltagssorgen verengt und die Anteilnahme am Leid der andern verunmöglicht. Menschen werden, ob sie es wollen oder nicht, zu Opfern, Tätern, Mitwissern und Profiteuren politischer Systeme und geschichtlicher Ereignisse.

Dies dokumentiert Erpenbeck in ihrem Buch "Heimsuchung" an zwölf Lebensgeschichten, lediglich verbunden durch einen kleinen Flecken Erde am Scharmützelsee in der Markbrandenburg. Gemeint ist das Haus am Seeufer, in dem Erpenbeck zahlreiche Ferien bei ihren Grosseltern verbrachte und mit dem sie viele Erinnerungen an ihre Kindheit verbindet.

Die Schilderung "des Kommens, des Bleibenwollens und des Gehenmüssens" beginnt um die Jahrhundertwende um 1900 mit der Geschichte eines Grossbauern und seiner vier Töchter. Erpenbeck breitet ein Panorama des bäuerlich-archaischen Lebens und deren Umgang mit Unehelichkeit und Wahnsinn aus. Aber auch in dieser Abgelegenheit lässt sich die Moderne nicht aufhalten, sie kommt mit Verspätung, als neue Lebensformen sich ausbreiten, Touristen aus dem gutbetuchten städtischen Milieu Erholung suchen. Am Scharmützelsee zeigt sie sich in der Person eines Berliner Architekten, welcher der Hektik der Stadt entfliehen und in der Seenlandschaft mit seiner Familie die Sommerfrische verbringen will. Er erstellt auf dem Land seinen Feriensitz, und kurze Zeit später erwirbt ein jüdischer Tuchhändler nebenan ein Badehaus.

Mit der Geschichte dieser beiden Familien werden die persönlichen Schicksale endgültig in die Tragödie der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts eingebunden. Das Haus wird Zufluchtsort, Ort von Vertreibung, Suizid, Flucht, Vergewaltigung und Heimatlosigkeit. Geschehnisse rollen über die Menschen hinweg, Ereignisse, welche die Beteiligten oft erst verspätet, mit einem "historischen Trägheitsmoment", in ihrer ganzen Dimension erfassen. Nationalsozialistische, kommunistische Machtergreifung, kapitalistische Rückeroberung nach der Wiedervereinigung verändern die Besitzverhältnisse, lassen neue Besitzer einziehen. Ideologien und Machthaber ändern, bringen jeweils neue Sieger und Verlierer hervor, aber das versprochene Glück bleibt aus.

Viel Recherchierarbeit hat Erpenbeck geleistet, in Archiven nach dem Verbleib von Personen gesucht, aber ihr eigentlicher Verdienst ist die literarische Verdichtung dieser Lebensgeschichten. Es zieht einen in seinen Bann, wenn sie diese individuellen Geschichten ausbreitet, häppchenweise Hinweise auf die Begleitumstände einwirft, bis sich die Einzelteile zu berührenden Gesamtbildern verzweifelter oder zerrütteter Menschen verbinden und sich ein Panorama der Hoffnungslosigkeit, des Schreckens oder der Resignation entfaltet. Erpenbeck nähert sich ihren Figuren behutsam an, zeigt Menschen, die auch in den schrecklichsten Situationen noch Hoffnung und Sinn suchen. Trotz aller bedrückenden Momente straht das Buch auch viel menschliche Nähe aus.

Ein Stück Heimat haben, emotionale Geborgenheit und Sicherheit erleben, diese Sehnsucht verbindet die einzelnen Schicksale, sei dies als Existenzgrundlage oder als Ort der Erholung. Sich daheim fühlen ist immer auch an Erinnerungan an einen bestimmten Ort, eine Umgebung, an eine bestimmte Ordnung gebunden. Mit dieser natürlichen Ordnung beschäftigt sich ein Gärtner, der als zeitlose Figur gewissermassen über den Ereignissen steht. Er dient als Bindeglied zur Natur und als Brücke zwischen den einzelnenen Geschichten. Wenn er wortlos, ohne Hektik, seine Pflichten erfüllt , sich dem Schicksal hingibt, versucht Ordnung zu schaffen, entzieht er sich der Vergänglichkeit der menschlichen Existenz, ist einfach da, weil er immer da war, so wie er am Schluss auch wieder wortlos verschwindet.
Ein paradiesischer Ort, doch das Paradies auf Erden ist nicht zu haben, den einen verweigert man es aus rassischen oder ideologischen Gründen, andern stehen eigene bittere Erlebnisse im Weg.

Mit "Heimsuchung" ist Erpenbeck ein eindringliches Werk gelungen. Sie ist eine grossartige Erzählerin, behutsam nähert sie sich ihren Figuren an und thematisiert dabei viele Grundfragen des menschlichen Lebens, sei dies die Vergänglichkeit der Existenz, die Gerechtigkeit des Besitzes oder die Verantwortung des eigenen Handelns.


von Urs Hardegger - 19. September 2014
Heimsuchung
Jenny Erpenbeck
Heimsuchung

btb 2014
192 Seiten, broschiert
EAN 978-3442738946