Marius Reiser: Jeanne d'Arc oder Die Jungfrau

Märtyrerin des Gewissens

Jeanne d’Arc steht für sich in der französischen Geschichte, eine singuläre, nach säkularen Maßstäben schier unglaubliche Persönlichkeit, eine Gestalt, an der sich zu ihren Lebzeiten die Geister schieden, Kämpferin für ihr Vaterland, eine von Gott ergriffene Heilige, von der Inquisition als Ketzerin hingerichtet und rund zwanzig Jahre nach ihrem Tod vom Papst rehabilitiert. Der weithin bekannte katholische Theologe Marius Reiser würdigt ihre Gestalt und die Rezeptionsgeschichte ihres Wirkens in einem Buch von herausragender Qualität, das der Frage nachgeht: Wer war Jeanne d’Arc?

Die „christliche Symbolgestalt“ ist weit über Frankreich hinaus bekannt, sie wurde später behutsam gewürdigt, literarisch porträtiert und auch narrativ vereinnahmt. Anders als dem blutrünstigen Feldherrn Napoleon Bonaparte wurde ihr in Paris keine Stätte der Verehrung errichtet. Doch einfach gläubige Christen verehren bis heute Jeanne d’Arc, das „Bauernmädchen“, das Geschichte schreibt, „dauernd im Transzendenten lebt“, mit 17 Jahren politisch agiert und zwei Jahre später auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird, als Hexe und Ketzerin.

Jeanne d’Arc verfügte über die „Tränengabe“, ein „hochgeschätztes geistliches Charisma“. Sie weinte in der heiligen Messe bei der Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi, bei der Beichte, beim Empfang der Kommunion und auch beim Tod der Feinde. In Sorge war sie um die Reinheit des Gewissens, und antwortete, wenn sie gefragt wurde, warum sie oft beichten würde, dass das Gewissen nie genug gereinigt werden könne. Als sie sich zum Heeresdienst erwählt wusste, ließ sie sich die Haare kürzen und trug Männerbekleidung: „Ein einfaches Mädchen in Reithosen zu Pferd war damals sensationell, ein Schwert an ihrer Seite und die Begleitung von Männern eigentlich skandalös.“ Das „Mädchen mit dem Banner“ kämpfte nicht im Namen des Königs für Frankreich gegen die Engländer, sondern im Namen Gottes. Sie inspirierte die Truppen, führte sie an, ohne aber selbst zum Schwert zu greifen. Üble Nachrede und Anfeindungen folgten ihren Triumphen. Jeanne erregte Missgunst und Misstrauen. Unterstellungen und Verleumdungen kursierten. Ihr wurden eine „hartnäckig vertretene Falschlehre“ und „Häresie“ vorgeworfen: „Die Angeklagte wusste bis zur Endphase des Prozesses nicht genau, was man ihr eigentlich vorwarf und wessen man sie genau verdächtigte.“ Schließlich wurde sie nach einem vergleichsweise langen Prozess verurteilt und auf den Scheiterhaufen geführt, versehen mit allen nur denkbaren Schuldsprüchen, als Lügnerin geschmäht, als Götzendienerin und Schismatikerin tituliert: „Bevor sie erstickte, rief sie Gott, Maria, den Erzengel Michael, die heilige Katharina und alle Heiligen an und schrie dann bis zum letzten Atemzug und beim letzten Mal mit besonders lauter Stimme: »Jesus!«“ Fünfundzwanzig Jahre später wurde Jeanne in einem „einzigartigen Fall in der kirchlichen Rechtsgeschichte“ im Namen des Papstes vollständig rehabilitiert: „Man hat Johannes keiner falschen dogmatischen Aussage überführt, die als Irrtum im katholischen Glauben gelten kann. Sie war offenkundig keine Häretikerin und Rückfällige, sondern vielmehr von Gott gesandt zur Rettung Frankreichs vor den Engländern.“ Bezeichnet werden könne sie, so Marius Reiser, als „Märtyrerin des Gewissens“, die über einen „starken Glauben“ verfügte, außergewöhnlich intelligent und charismatisch gewesen sei. Sie gehöre zu den „Visionärinnen“, die auch Privatoffenbarungen hatte, denen sie traute und von denen sie sich leiten ließ. An solche Privatoffenbarungen sei niemand zu glauben verpflichtet. Reiser schreibt dazu: „Wenn Gott sich dem Menschen zeigen oder mitteilen will, muss er dies auf eine Weise tun, die der Mensch wahrnehmen und verstehen kann. Gott muss sich immer der beschränkten und kulturgeschichtlich bedingten Fassungskraft seines Gegenübers anpassen und in jeder Hinsicht seine Sprache sprechen.“

Mit  Blick auf Jeanne d’Arc spricht er von einer „heiligen Sachlichkeit“, die ihr zu eigen gewesen sei. Sie habe die Führung von droben, die sie erlebte, angenommen und blieb der Kirche treu, auch wenn sie als „Opfer der unentwirrbaren kirchlich-politischen Verhältnisse“ gestorben war. Heute noch wird das Bauernmädchen, das zur Heldin wurde und einen tragischen Märtyrertod starb, sehr verehrt – und dieses facettenreiche, mit großer Sympathie verfasste Porträt von Marius Reiser ist eine sensible Annäherung an eine sehr besondere Gestalt aus der Geschichte Frankreichs, die in aller Welt bis heute von Katholiken als Heilige verehrt wird.

Jeanne d'Arc oder Die Jungfrau
Jeanne d'Arc oder Die Jungfrau
Geschichte - Gestalt - Wirkung
402 Seiten, gebunden
Herder 2024
EAN 978-3451398612

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