Seelenreinigende Grundnahrungsmittel
Jean Jacques Sempé rührt mit seinen Zeichnungen und Texten seit Jahren die Herzen seiner Leser an. Sein deutschsprachiger Verlag Diogenes hat nun zwei weitere Werke des stimmungsvollen Zeichners herausgegeben, die einmal mehr Geschichten von wahrer Liebe und echter Freundschaft erzählen.
Benjamin Kiesel ist ein ganz normaler Junge. Er ist weder besonders groß noch außergewöhnlich klein, ihn zieren weder eine extraordinär große Nase noch zwei passable Segelohren. Er ist weder ungewöhnlich schlau oder dumm und auch nicht auffallend verschlossen. Und auch von Krankheiten bleibt er verschont. Und dennoch ist er ein Einzelgänger, denn er leidet an einem seltsamen Syndrom: Er läuft rot an. Einfach so, ohne Grund. Es passiert ihm immer dann, wenn er es am allerwenigsten erwartet. Kreidebleich bleibt er hingegen, wenn er etwas ausgeheckt hat und andere vor Scham erröten würden. Diese außergewöhnliche Malaise hindert ihn, so fröhlich und unbeschwert zu leben, wie es andere Kinder tun. Ständig wird er auf seine Errötung angesprochen, so dass er sich auch permanent fragt, warum er rot wird und was er dagegen tun kann. Vergeblich.
Die mit dieser Anormalität einhergehende Tristesse hält solange an, bis in das Haus der Kiesels ein Junge namens Rudi Rettich zieht. Rettich ist von einer ähnlich seltsamen Unpässlichkeit geschlagen, denn er niest ohne jeden Anlass. Ob bei Auftritten mit seiner Violine, beim Versteckspiel oder im Schlaf - Rudi niest ununterbrochen. Wie sollte es anders sein, als dass die beiden, von ihrem eigentlich kaum erwähnenswerten Schicksal geplagten Jungen eine Freundschaft gründen, wie sie reicher und intensiver nicht ausgestattet sein könnte und die aller Unwegbarkeiten des Lebens zum Trotz bis ins Erwachsenenalter anhält. Sempé philosophiert in seiner Bildgeschichte "Benjamin Kiesel. Die Geschichte einer Freundschaft" über die Tiefe wahrer Freundschaft und über die absurde Anormalität des Alltags angesichts einer kindlichen Normabweichung.
Sempé ist eine feste Größe in der internationalen Cartoon-Szene. Der 1932 in Bordeaux geborene Zeichner versteht es nicht nur, amüsante Strips und Einzelbilder zu verfassen, sondern besitzt die außergewöhnliche Gabe, die komplexen Geschichten einfühlsamer und sensibler Charaktere aufs Papier zu bringen. Er öffnet mit den Schicksalen seiner Helden die Herzen und Seelen seiner Leser. Mit der Geschichte um Benjamin Kiesel legt der Diogenes-Verlag eine Text-Bild-Erzählung neu auf, die bereits 1971 unter dem Titel "Carlino Caramell" erschien und seitdem Alt und Jung erfreut. In der Neuauflage hat der Herausgeber nun den Titel auf Wunsch Sempés an das französische Original angepasst, in dem der errötende Dreikäsehoch Marcellin Caillou heißt. Warum die Anpassung nur am Nachnamen (frz. Caillou - dt. kleines Steinchen, Kiesel) vollzogen wurde und Carlino statt zu Benjamin nicht zu Marcel wurde, weiß man wohl nur bei Diogenes. Letztlich scheint die Neubetitelung nur eine vermarktungspolitische Petitesse des Verlags zu sein, die dem Leser allerdings die Möglichkeit eröffnet, einen weiteren Schatz des französischen Melancholikers erneut zu lesen.
Wie schon in den Abenteuern des kleinen Nick (in Zusammenarbeit mit dem Asterix-Texter René Goscinny), in der Erzählung des Herrn Sommer (gemeinsam mit "Das Parfüm"-Autor Patrick Süsskind), in der Geschichte des Fahrradhändlers Paul Tamburin oder in dem Rätsel um die Veränderung des Monsieur Lambert - die Texte in Sempés Werken sind kurz und knapp gehalten und auf das Notwendigste reduziert. Der besondere Zauber der Geschichten entsteigt den Zeichnungen des Franzosen. "Ich glaube, man erfasst die Dinge erst, wenn man sie zeichnet", so Sempé, der die Welt in Bilder ordnet, um sie so besser zu verstehen. Dem Leser ermöglicht er das Verständnis dieser wohlbehüteten Welt der Nostalgie und Melancholie durch den Detailreichtum seiner liebevollen Zeichnungen. Wohlbehütet heißt an dieser Stelle keineswegs frei von Traurigkeit, doch ist die Traurigkeit in Sempés Bildgeschichten von einer Anmut, dass es fast schon wieder Freude macht, diese reine und unschuldige Empfindung derart neu zu entdecken.
Sempés Neigung zum Melancholischen im harten und oft rücksichtslosen Alltag beweist die Cartoonsammlung "Für Romantiker". In der kleinen, in der Rubrik "Diogenes Cartoon Classics" erschienenen Auslese sind amüsante und nachdenkliche Zeichnungen des Franzosen versammelt, die die Erfolge, Hoffnungen und verzweifelten Momente des Romantikers in dem rauen und allzu oft rücksichtslosen Alltag unserer Gegenwart widerspiegeln. Sempés Romantik beschränkt sich dabei keineswegs auf die zweisamen Momente bei Kerzenschein. Es geht um die Erlösung von der inneren Einsamkeit, den Einklang mit sich selbst, um eine alles umspannende Zufriedenheit. Jeder Romantiker wird sich in einigen Zeichnungen Sempés wiedererkennen und so mancher angeblicher Nicht-Romantiker wird feststellen, dass in ihm ein größerer Träumer steckt, als er bisher dachte. Romantik, das macht Sempé deutlich, ist in jeder noch so absurden Situation möglich - man muss sie nur wollen.
Sempés Helden des Alltags haben es selten leicht, so dass ihnen die Sympathie des Lesers geradewegs zufliegt. Sie haben mit dem Leben zu kämpfen und spiegeln damit den Alltag des gemeinen Bürgers, dem es oft nicht anders geht und der dabei den Blick auf die menschliche Komödie zuweilen verliert. Daher stellen die Text-Bild-Erzählungen von Jean Jacques Sempé literarisch-bildliche Grundnahrungsmittel dar, die den Einzelnen davor bewahren, an der Tragikomödie des Lebens unterzugehen. Sempé ist ein Genuss und eine Wohltat für alle vom Alltag geplagten Seelen.
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