Nacht von Gift und Tanz
Mit "Gift, Schatten und Abschied" vollendet Javier Marías die Romantrilogie "Dein Gesicht morgen". In der spanischen Originalsprache kann die Geschichte rund um Jaime Deza bereits seit 2007 einbändig erworben werden, in deutscher Sprache ist das Werk in drei Bücher aufgesplittert, was in Anbetracht des grossen Seitenumfangs durchaus Sinn macht. Natürlich taucht besser in Dezas Welt ein, wer bereits die ersten beiden Teile der Trilogie gelesen hat, dennoch ist es auch quereinsteigend möglich, sich darin zu orientieren. Denn einmal mehr steht nicht die Handlung als solche im Vordergrund, sondern Fragen rund um die menschliche Psyche und Zurechnungsfähigkeit.
Der Protagonist und Ich-Erzähler Jaime Deza arbeitet für eine Sondereinheit des britischen Geheimdienstes und beschäftigt sich mit dem Dechiffrieren von Gesichtern. "Nein, es fiel mir nicht mehr leicht", so Deza, "mich in einer anderen […], weniger abwechslungsreichen Arbeit zu sehen, schlieβlich stand ich jeden Morgen neuen Gesichtern gegenüber oder vertiefte mich weiter in die bekannten, es war eine Herausforderung, sie zu entschlüsseln. Auf ihre Möglichkeiten zu setzen, ihr Verhalten vorauszusehen, es war fast, als würde man Romane schreiben oder zumindest Porträts." Wozu diese Romane und Porträts schlussendlich verwendet werden, bleibt nicht nur dem Leser, sondern auch Deza vorerst ungewiss. Eine Tatsache, die etwas erstaunt, handelt es sich doch bei Jaime Deza um eine äussert reflektiere und gebildete Person, die sich sonst kaum mit einfachen Antworten zufrieden gibt. Doch auch auf die Frage, wieso man nicht einfach jemanden töten könne, weiss Deza seinem direkt Vorgesetzten Tupra keine Antwort zu geben. Der erste Teil - Gift - dreht sich um genau diese Problematik, gibt es ein Recht zu töten, falls ja, wer hat dieses inne, Privatpersonen, staatliche Institutionen? Die ablehnende Haltung Dezas wird auf Probe gestellt: Tupra spielt diesem eine Reihe von gefilmten, äusserst brutalen Folter- Sex- und Vergewaltigungsszenen vor, denen ranghohe Politiker und andere Prominente beiwohnen. Und doch hadert Deza bis zum Schluss mit einer gültigen Antwort, ist es richtig und legitim, jemanden umzubringen, damit nicht zehn weitere Menschen umgebracht werden?
Der derzeit erfolgreichste spanische Gegenwartsautor Javier Marías gibt keine Antworten und moralisiert nicht. Persönlich geprägt von der Thematik rund um Verrat, dessen Preis und Konsequenzen, zeigt Marías anhand der (Gedanken-) Welt seiner Protagonisten das Ineinandergreifen von privaten und staatlichen Interessen und Ansprüchen, welche schlussendlich im Verrat oder in Machtmissbrauch enden. Tupra erklärt: "Der Staat braucht den Verrat, die Käuflichkeit, den Betrug, das Verbrechen, die illegale Verschwörung, die Tiefschläge […]. Wenn es sie nicht gäbe oder es nicht genug wären, müβte er sie begünstigen, das tut er auch schon."
Der in London lebende Jaime Deza reist für zwei Wochen nach Madrid, wo er seinen Vater, seine beiden Kinder und deren Mutter - seine noch Ehefrau - besuchen will. Dabei verstrickt er sich in einer heiklen Situation, beginnt selber zu beschatten und seine nächsten Menschen auszuspionieren. Deza wirft Vorsätze und moralische Vorstellungen über den Haufen und greift selber zu Gewalt. Obwohl der Madrid-Aufenthalt und das Handlungsmotiv Dezas nicht ganz zu überzeugen vermögen - man nimmt Deza den radikalen Wandel einfach nicht richtig ab - fungieren die Ereignisse als wichtige Erkenntnisse im Zusammenhang mit Dezas moralischen Auseinandersetzungen. Getötet und verletzt wird nicht nur mit Taten, sondern ebenso anhand von Worten.
Während des Spanischen Bürgerkrieges wurde Javier Marías Vater, Julián Marías, von seinem besten Freund an die Franquisten ausgeliefert und beinahe erschossen. Dank einer relevanten Gegeninformation konnte er den Tod abwenden, wurde jedoch in Spanien mit einem Berufsverbot versehen und dadurch zur Emigration gezwungen. Bis zur Rückkehr nach Madrid 1959 lebte die Familie Marías in den USA. Der Vater von Jaime Deza hat viel mit demjenigen Javier Marías gemeinsam, ebenso Peter Wheeler, der zahlreiche Parallelen zu Marías engem Freund, Sir Peter Russell, aufweist und im Buch die Figur des ehemaligen, britischen Geheimagenten verkörpert, welcher Deza die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges aus englischer Sicht erläutert. Dem Lebensende nahe, erzählt Wheeler seinem Schützling Deza von zahlreichen Missionen, welche nicht für die Öffentlichkeit bestimmt wären und wiederum aufzeigen, wozu Menschen in Not- und Kriegssituationen fähig sind.
Wie sich Javier Marías mit der Sprache auseinandersetzt ist schlicht virtuos und genial. Es gibt wenige Autoren der Gegenwart, die dies auf ähnlich raffinierte und inhaltsstarke Art und Weise zu tun vermögen. Immer wieder werden Wortwahl und etymologische Bedeutungen thematisiert, als Leser taucht man in die unterschiedlichen Sprachwelten des Protagonisten ein. Der Text präsentiert sich als ein intermediales Kunstwerk, welches neben zahlreichen physisch vorhandenen Bildern auch musikalische Elemente aufweist, Sätze und ganze Abschnitte werden wiederholt und in leicht abgeänderter Version erneut aufgegriffen. Nicht nur die Sprache, sondern auch die Erzählweise als solche ist extrem packend, eine kleine Begebenheit kann über mehrere Seiten beschrieben werden, ohne dass die Beschreibung gekünstelt oder langweilig wird. Der Ton ist sehr genau auf die jeweilige Situation abgestimmt, die Untertöne sind immer hör- und manchmal sogar fühlbar. Besonders eine Stelle ragt diesbezüglich heraus, nämlich, als Deza seinen beiden Kindern aus dem Londoner Leben erzählt und die Ereignisse in eine Art Kindergeschichte verpackt. Nichts davon ist erfunden, alles so, wie es der Leser bereits mitbekommen hat und doch ist es eine andere Geschichte: Phantasie und Liebe schwingen zum Greifen nah mit.
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