René Aguigah: James Baldwin

"Wir sind alle androgyn"

Kein gewöhnlicher Autor, keine gewöhnliche Biographie. René Aguigah, Kulturjournalist bei Deutschlandfunk, richtet die Scheinwerfer auf James Baldwin indem er ihn liest. Es ist "weder eine Forschungsarbeit noch Biographie", sondern porträtiert ihn, "indem es ihn liest, vor allem seine Romane sowie Buchessays" (...). "Eine Lektüre, die, sofern sie gelingt, zu weiteren Lektüren anregen möchte." Und genau das ist Aguigah auch gelungen.

The Fire Next Time

Ein sagenhafter Aufstieg vom Essayisten zum Schriftsteller Ende der 50er ließ ihn bereits Ende der 60er schon wieder als passé erscheinen. Dabei waren das weder seine Anliegen noch seine Bücher. James Baldwin, der durch Black Lives Matter, Madonna, Morrisey u. a. Anfang der 2020er eine Art Renaissance erlebt(e), war nicht nur Weggenosse Martin Luther Kings und Malcolm X's, sondern auch ein "Zeuge", wie der Biograph glaubhaft versichert. "Ein großer Schriftsteller fungiert als unanfechtbarer Zeuge der eigenen Erfahrung." Schonungslos spricht James Baldwin das aus, was viele sich nicht einmal zu denken trauten, denn die Folgen der Segregation und des Rassismus in den USA sind nach wie vor zu spüren und zu hören. Von Birmingham (Alabama) bis San Francisco, der scheinbar liberalsten Stadt Amerikas, werden Afro-Amerikaner immer noch um ihre Jobchancen betrogen, schlechter bezahlt oder als Außenseiter diskriminiert. Als in den Sechzigern ein Kennedy versichert, dass in 40 Jahren ein Schwarzer Präsident sein könne, antwortete ihm Baldwin treffsicher: "Es ist nicht wirklich wichtig, ob es einen schwarzen Präsidenten gibt. Wichtig ist, dass ihr Präsident werden könnt. Es gibt nichts, das irgendjemand tun kann, dass ihr nicht könnt." Den vielzitierten Marsch auf Washington vom 28. August 1963 der Bürgerrechtsbewegung um MLK bezeichnete Baldwin prägnant als "jüngsten Sklavenaufstand", denn "Bürger" müssten nicht um ihre Rechte kämpfen. Schwarze in den USA waren aber auch 100 Jahre nach der Emancipation Declaration unter Abe Lincoln (1863) immer noch Bürger zweiter Klasse. Das eigentlich Problem hätten aber die Weißen, denn sie hätten den "Nigger" erfunden. Es verrät viel über sie selbst. "Wahrscheinlich halten die Menschen deswegen so stur an ihrem Hass fest, weil sie ahnen: Ist der Hass einmal verschwunden, kommt der Schmerz."

Leiden als Brücke

Als Schriftsteller und Vertreter seiner Zunft, wandte sich Baldwin aber auch gegen die sogenannten Protestromane wie Onkel Tom's Hütte und ähnliches. Es würden nur Mythen über Afroamerikaner darin produziert, stereotype Darstellungen wie etwa Aunt Jemima, die klassische Haushaltsbedienstete. Dass Baldwin diesen Vorwurf "Jedermanns Protestroman" ausgerechnet dem von ihm bewunderten Richard Wright gemacht hat, wurde zu einer eigenen Kontroverse in der Literaturgeschichte. Es komme darauf an, "sich nicht mit der Reproduktion von Stereotypen zu begnügen, sondern eine Realität zu schaffen, deren Komplexität sich vorgefertigten Weltbildern widersetzt", schreibt Baldwin und kreiert sich damit auch gleich sein eigenes Selbstverständnis als Künstler: "Die Verantwortung des Künstlers ist vor allem anderen, Künstler zu werden. Selbstverständlich folgt daraus nicht, dass er keine soziale Verantwortung habe. Aber der einzige Weg, seine Verantwortung auszuüben, ist, das zu tun, was er am besten kann." Der Künstler würde einen zurück zur Realität führen, und genau darin bestehe auch seine Macht, so Baldwin. Man mache durch die Kunst eben erträglich, was im Leben fast unerträglich sei. Durch die Lektüre von Dostojewski habe er eine "fantastische und furchterregende Befreiung" erlebt und begriffen, dass es das Leiden sei, was alle Menschen verbinde: "Es ist ein Brücke". Die Aufgabe des Schriftstellers sei es, zu erzählen, "wie es sich anfühlt am Leben zu sein". Weiße Amerikaner würden sehr wenig über Lust wissen, weil sie so viel Angst vor Schmerz haben, schreibt Baldwin punktgenau, ihn selbst habe nur sein Exil in Frankreich vor dem sicheren Wahnsinn gerettet.

Wir=Teil des Andern

René Aguigah hat eine aufsehenerregende, andere Biographie geschrieben, die sich den Mann anhand seiner Texte erarbeitet und zeigt wie modern James Baldwin auch heute noch ist. Während 1967 die Weißen ihren "Summer of Love" feierten, hatten die Schwarzen eine "Long Hot Summer": Unruhen in mehr als 150 Städten im ganze Land, die blutigsten davon in Detroit, Newark, Milwaukee und New York. Aus dieser Zeit stammt auch das Zitat von Trump "when the looting starts, the shooting starts", das er Miamis Polizeichef entlehnte, als 2020 George Floyd ermordet wurde. Solange so ein Denken vorherrscht, ist ein schwarzer Präsident bloßer Tokenismus. Auch das hatte Baldwin schon erkannt. 1987 starb er viel zu früh an Speiseröhrenkrebs und hinterließ ein Werk, das nur so auf Wiederentdeckung und Apropriation wartet: "Aber wir sind alle androgyn (...), weil jeder von uns, hilflos und für immer, den jeweils anderen enthält - männlich und weiblich, weiblich in männlich, weiß in schwarz, schwarz in weiß. Wir sind Teil des Anderen."

James Baldwin
James Baldwin
Der Zeuge. Ein Porträt
233 Seiten, gebunden
C.H.Beck 2024
EAN 978-3406813696

Baldwin von seiner wütenden und seiner zärtlichen Seite

Eine Essaysammlung zeigt James Baldwin als Sohn und Onkel, aber vor allem auch als Bürger, Sohn eines Landes, den USA.

Von einem Sohn dieses Landes

The Fire Next Time

James Baldwins Werk, das die ungebrochene Macht des Rassismus und den Kampf für Gerechtigkeit thematisiert, ist aktueller denn je. Ein eindringliches Plädoyer für Versöhnung.

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