Istanbul, caput mundi
Istanbuls Schönheit ist universal und absolut, heißt es schon auf der ersten Seite und wenn es nicht mindestens der schönste Ort der Welt ist, so würde selbst ein "kühler Deutscher" die schönsten Illusionen der Jugend, ja, die Träume der ersten Liebe im Vergleich zu dem süßen Gefühl, das die Seele beim Anblick dieses verzauberten Ortes durchströmt, verblassen, so De Amicis. "Oh ja, dies ist das schönste Schauspiel der Welt, wer das leugnet, ist undankbar vor Gott und beleidigt seine Schöpfung!" In Istanbul sehe man sämtliche Schattierungen der menschlichen Haut, schwärmt De Amicis, und die Hauptstadt dreier Kontinente und die Königin von zwanzig Vizekönigreichen sei unvergleichbar.
Schönheit und Tragödie
De Amicis schwärmt aber nicht nur bei der Ankunft vom Meer her über Istanbul, sondern auch über all die Eigenheiten dieser ganz besonderen Stadt, die einst die Hauptstadt des oströmischen Reichs war und deswegen noch viele christliche Spuren trägt. Im großen Basar etwa entdeckt er die vierte Säule des Zeltes der Wollust: Kaffee, Opium, Wein und Tabak. Auch lobt er die Sprachkenntnisse der Verkäufer, die alles probieren, um einen über’s Ohr zu hauen aber niemals handgreiflich werden würden. "All diese Männer haben etwas Bizarres, Groteskes, jeder weckt im Geist die ganze Geschichte eines abenteuerlichen, phantastischen Lebens." Dann wieder bereist er das Goldene Horn, beschreibt die Hagia Sophia oder die wilden Hunde Istanbuls als "große Republik der Vagabunden" und sieht selbst in ihnen eine soziale Funktion, da sie wie "Besen der Straße" die Stadt vor Überflüssigem reinigen würden. Zeit sei hier eine Kategorie, denn es gelte zunächst "um jeden Preis zu schlafen, dösen, zu träumen, zu rauchen, und zwar so lang wie möglich", in den Zeiten dazwischen könne man dann was für den Lebensunterhalt tun.
Kief statt Hüzün
"Istanbul, Hauptstadt der Welt" erschien erstmals 1878 unter dem Titel "Constantinopoli" als Folioband mit mehr als 700 Seiten und illustriert von Cesare Biseo. Der Autor war damals erst 32 Jahre alt und sollte acht Jahre später durch seinen Roman "Cuore" berühmt werden. Das Buch gilt als eine der ersten Reisereportagen und für die vorliegende Ausgabe hat Annette Kopetzki die schönsten Passagen ausgewählt. Die vorliegende Ausgabe ist ebenfalls illustriert und in schönes Leinen gebunden. Auch für den türkischen Nobelpreisträger Orhan Pamuk ist dieses Buch eines der schönsten Bücher über Istanbul, das er auch in seiner Monographie zu Istanbul lobend erwähnt. Während Pamuk "Hüzün" als bestimmendes Lebensgefühl nennt, ist es bei Amicis der sog. "Kief": die Tauben auf dem Friedhof, die Wolken und die fernen Schiffe sehen und beim Nargile vage an Gott, die Vergänglichkeit irdischer Dinge und die süße ewige Ruhe in einem anderen Leben zu denken, so beschreibt Amicis das Leben in der schönsten Stadt der Welt, denn wer hier gelebt habe, dem müsse ohnehin alles andere "farblos und gleichförmig" erscheinen. Ein wunderbares Bauch, das zum Träumen einlädt.
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