Pop oder das Kognitaritat im freien Fall
"Popkultur" sei ein "Wahnsinnsvorrat an Poesie, Phantasie und Vergnügen, und ein Wahnsinnsvorrat an Verblödung, Unterdrückung und Angst. Wenn man das eine anschaut, ohne von dem anderen zu wissen, begeht man einen Riesenfehler", schreibt Georg Seeßlen über seinen Untersuchungsgegenstand und erklärt sogleich ausführlich wie er zu dieser Einsicht gekommen ist. "Pop ist zugleich Politik und die Erlösung von Politik." Und im Verwertungsmechanismus des Postkapitalismus spiele Kultur ohnehin nur eine Funktion der Entpolitisierung, einer "Aussteigerdroge" für allzu Engagierte. Während die Beatles Herr ihrer Vermarktung gewesen seien, wäre Elvis eher eine Art Opfer derselben gewesen. "Pop heißt Profit und Pop heißt Propaganda, und das Profitinteresse und den Propagandaeffekt herauszustellen, ist eine erste Aufgabe von Kritik." Darin sieht wohl auch Georg Seeßlen seine Aufgabe.
Unbequeme Fragen
Seeßlen will vor allem zwei Mythen über Pop dekonstruieren: Popkultur sei "simpel, kindlich und volkstümlich, leicht zugänglich und verdaulich in ihrer seriellen Redundanz letztlich leer oder beliebig füllbar, tautologisch und unreflektiert". Die Differenz zwischen Hoch- und Popkultur sei ein ideologisches Konstrukt, obwohl er ersterer doch Klassencharakter einräumt. Aber jede Kunst enthalte Pop und etliches an Pop enthalte auch Kunst so Seeßlen. Pop sei emotional, Hochkultur rational, aber das wurde nur von jenen gesagt, denen es nütze. Aber das "Volkstümliche" komme ebensowenig aus dem Volk, wie das Hochkulturelle, sondern sei lediglich ein Kontroll- und Manipulationsspiel mit Belohnungsregression und Bestrafungsängsten für nicht-Dazugehören. "Wer weiß. Entscheidend ist nicht die Antwort, entscheidend ist der Mut, die Fragen zu stellen." Dem kann man sich nur anschließen.
Aufmunternde Antworten
Besonders amüsant zu lesen ist auch der "Prekariatsblues" betitelte Essay, die die Selbstausbeutung aller Kulturschaffenden unter die Lupe nimmt: "Das Prekariat ist die Sphäre der entwerteten Arbeit und der entrechteten Menschen", heißt es hier klar und deutlich und ohne Illusionen, es sei "die Klasse der nachhaltig Vereinzelten". Damit erreichten die Betroffenen oft nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn und würden sich dennoch als "arm, aber sexy" einstufen, "flexibel, risikobereit, anpassungsfähig und immer auf dem Sprung zur großen `Selbstverwirklichung`", so kenne man die Prekären. Die Kehrseite ist allerdings, dass viele Kulturbetriebe - etwa die Nationalbibliothek - ohne diese Leute gar nicht überleben könnten. Das "Kognitaritat" sei eine digitale Avantgarde, die den Zusammenbruch der New Economy besiegelte, sie seien die Protagonisten eines Semiokapitalismus (Franco Berardi), "prekäre Klasse mit vernetztem Hirn, aber unharmonischer Verkabelung, performativ aber unglücklich". So wird man zur Reservearmee und Reparaturinstanz im neoliberal deregulierten Arbeitsmarkt und zumindest steht man noch über dem Kleinbürgertum und dem Sub- oder Lumpenproletariat, denn man "verwirkliche" sich ja selbst und tue das, was man macht, gerne. Pop ist ein Wegbereiter der Prekarisierung, schreibt Seeßlen und nach und nach werde so das Prekariat zur Klasse, die für den permanenten kulturellen Zerfall sorge.
Weitere scharfsinnige Essays, die zum Nachdenken anregen, handeln von Gespenstern, Kannibalen, Doppelgängern und Horrorclowns, Popkritik, Sexualität und Marktwirtschaft, Liebe, Popgida, Ästhetik und Demokratie und Pop als Befreiung, sowie abschließend fünf Thesen zur Popkritik.
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