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Die „Faktenchecker“ vom Dienst

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat in Deutschland eine privilegierte Stellung und ein anspruchsvolles Selbstverständnis. Jeder Bürger der Republik ist etwa so frei, aus welchen Gründen auch immer, aus den christlichen Kirchen auszutreten und künftig einer oder keiner Religionsgemeinschaft anzugehören. Wer austritt, muss nicht länger dafür zahlen. Das ist nur fair. Die Gebührenabgabe für Fernsehen und Rundfunk ist ein Zwangsgeld, von der nur aus sozialen Gründen Befreiung möglich ist. Wer etwa den „Deutschlandfunk“ für politisch tendenziös hält und in Sachen Nachrichten darum sich in Enthaltsamkeit übt, also bekennender Nichthörer ist, muss das Programm und dessen Inhalte trotzdem finanzieren. Oder bieten augenscheinlich renommierte Sendungen wie die „Tagesschau“ weltanschaulich neutrale Informationen? Alexander Teske, Journalist und ehemaliger Mitarbeiter des staatlichen Mediums, schenkt Einblicke in die Nachrichtenproduktion und klärt damit über eine Sendung und ihre Macher auf, die sich selbst für aufklärerisch halten.

Das „Flaggschiff der ARD“, die „Tagesschau“ um 20 Uhr, ist auch heute noch eine Art „Lagerfeuer“ der Nation, auch wenn beliebte, bekannte und unterbezahlte Nachrichtensprecher – mit einem für Freiberufler kärglichen Honorar von knapp 300 Euro pro Sendung –, die vorab angefertigte Nachrichten verlesen, die Sendung verlassen haben. Ehemalige Fußballer wie Bastian Schweinsteiger, früher „einer der Besten am Ball“, heute einer der „Mittelmäßigsten am Mikrofon“ erhalten hohe Honorare: „Nicht dementiert wurden Veröffentlichungen, nach denen er pro Auftritt bei einem Länderspiel 10.000 bis 25.000 Euro erhält.“

Linda Zervakis, Judith Rakers und zuletzt Constantin Schreiber suchten neue Herausforderungen. Besonders die Bestsellerautorin Linda Zervakis, viele Jahre auch eine der beliebtesten Nachrichtensprecherinnen der „Tagesschau“, war deutlich unterfordert. Sie dürfte heute nicht mehr das Publikum mit „Guten Abend, meine Damen und Herren!“ begrüßen. Seit einiger Zeit gilt das Diktum der absoluten Geschlechtsneutralität: „Guten Abend!“, aber immerhin wird das Publikum nicht mit „Liebe Alle!“ adressiert. Vor einiger Zeit unterlief der ebenfalls versierten Journalistin Julia Niharika-Sen ein Lapsus. Sie begrüßte die Zuschauer mit der klassischen Anrede. Ob sie dafür in Redaktionskonferenzen oder bei Nachbesprechungen getadelt wurde? Das „Flaggschiff“ der Berichterstattung segelt auf den Gewässern der postmodernen Wokeness. Wenn über Tagungen der Deutschen Bischofskonferenz berichtet wird, werden ausgiebig Repräsentanten von Splittergruppen wie „Wir sind Kirche“ befragt oder die gängigen Lehrmeinungen des letzten Zentralkomitees dieser Welt, des „Zentralkomitees für deutsche Katholiken“, über das Frauenpriestertum und den Klimawandel prominent präsentiert. Wäre die „Tagesschau“ investigativ, würde sie nachfragen, welche demokratische Legitimation etwa dieser elitäre Laienverband, der von sich behauptet, dass er die katholischen Laien in der Öffentlichkeit vertreten würde, wirklich besitzt. Da aber solche Vereinigungen und die Statements ihrer Führungsspitze bestenfalls den kirchenpolitisch und medial erwünschten Mainstream abbilden, scheinen sie geschätzte Gesprächspartner zu sein.

Teske schildert anschaulich, wie die Expertenauswahl betrieben wird. Angehörige von Lobbyverbänden, wie etwa aus dem Bund der Steuerzahler, finden Gehör, ebenso gibt es omnipräsente Verbände, die über eine öffentliche Bühne, aber kaum über eine große Mitgliederzahl verfügen: „So gibt es kaum einen Beitrag über die Deutsche Bahn, in dem nicht ein Sprecher von Pro Bahn auftaucht. Nur hat der Fahrgastverband gerade einmal 4.000 Mitglieder. Dabei fahren 5,4 Millionen Menschen mit der Deutschen Bahn – jeden Tag.“ Das maßgebliche Kriterium für die Expertenauswahl sei „Erreichbarkeit“, ebenso der „Wille zur Öffentlichkeit“. Zumeist würden „biodeutsche Herren im fortgeschrittenen Alter“ auserwählt: „Eingeladen werden bevorzugt westdeutsche Männer mit akademischem Hintergrund. Wie die Journalisten selbst gehören sie überwiegend zur privilegierten Schicht des oberen Zehntels der Bevölkerung und vertreten dementsprechend häufig Positionen der herrschenden Elite. Ostdeutsche sind demnach unterrepräsentiert. Genauso wie Menschen mit Migrationshintergrund. Oft wird über diese große und relevante Bevölkerungsgruppe gesprochen, aber nur selten mit ihr.“ Andere Experten verschwinden plötzlich, wie der ehemalige Bundeswehrgeneral Harald Kujat. Er hatte im Ukraine-Krieg „Verständnis für die Position Russlands“ geäußert. Der stellvertretende Chefredakteur Helge Fuhst gab eine „Anweisung an die Redaktion“: „Keine Interviews mehr mit dem General, dieser sei untragbar. Ich bin irritiert. Was ist mit unserer vielgelobten Meinungsfreiheit und dem Auftrag der öffentlich-rechtlichen Sender, die Breite der Meinungen in der Bevölkerung abzubilden, solange sie auf dem Boden des Grundgesetzes stehen? Man muss die Meinung von Kujat nicht teilen. Aber er ist nicht irgendwer.“ Doch wer den „erwünschten Meinungskorridor“ verlässt, der muss mit dem „Bannstrahl“ rechnen. Im Ukraine-Krieg heißt es dies: „Der Westen hat keine Fehler gemacht und Russland handelt irrational böse.“

Ebenso wurde in der Corona-Zeit die restriktive staatliche Verordnungspolitik nicht kritisch reflektiert, sondern – und dies ausdrücklich ohne Regierungsauftrag, wie Teske versichert – affirmativ begleitet. Das änderte sich auch später nicht. Die scheinbar allwissenden Faktenchecker und -finder der „Marke Tagesschau“ kümmerten sich nicht um die sogenannten „RKI-Files“. Teske fragt: „Beispielsweise, warum sich kein großes Medienhaus wie die ARD, sondern das kleine Onlinemagazin Multipolar um die Aufarbeitung der für alle Deutschen einschneidenden Pandemiezeit verdient gemacht hat. Warum das RKI fast drei Jahre Steuergelder verwendete, um die Herausgabe zu verhindern. Warum die über 2.500 Seiten an mehr als eintausend Stellen geschwärzt wurden usw.“ 

Ebenso kritisiert der Autor, der mitnichten Sympathien für die AfD hegt, den Umgang des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, speziell hier der „Tagesschau“, mit einer Partei, die gegenwärtig ein „zulässiger demokratischer Mitbewerber auf dem politischen Parkett“ sei: „Journalisten sind keine Richter. Dafür haben sie kein Mandat. Die AfD nicht zu ignorieren, ergibt sich aus der Achtung vor dem Wähler und Respekt vor dem Gebührenzahler. Was viele Redakteure des ÖRR nicht wahrhaben wollen: Auch AfD-Wähler sind Gebührenzahler. Sie haben wie alle anderen auch einen Anspruch darauf zu erfahren: Was will die Partei und wofür steht sie?“ Teske verweist darauf, dass über die Ansichten zur Migration breit berichtet werde, aber etwa die Positionen der AfD zum Haushalt, zur Cannabis-Legalisierung oder zur Sterbehilfe kaum oder „nur in Ausnahmefällen“ Erwähnung finden. Warum ist das so? 

Alexander Teske hat ein ausnehmend kritisches Buch über die noch immer beliebteste deutsche Nachrichtensendung geschrieben, anregend, kenntnisreich, provokativ und ungemein lesenswert. Er fordert kein Misstrauen gegenüber den Machern der „Tagesschau“, aber er wirbt für eine „gesunde Skepsis“ – und dafür, mit Kant gesprochen, sich seines eigenen Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen.

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Zwischen Nachrichten und Meinungsmache
292 Seiten, gebunden
EAN 978-3784437316

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