Vaddey Ratner: Im Schatten des Banyanbaums

Es geht ums Überleben

Die siebenjährige Raami hat Kinderlähmung, weswegen sie hinkt und eine Gehschiene benötigt. "Ich holte sie aus dem Schrank, legte rasch die Schiene an und schlüpfte in die Schuhe. Der rechte hatte etwas mehr Absatz als der linke, um die Beinlänge anzupassen." Diese wunderbar einfache und klare Sprache ist eines der Markenzeichen der Autorin Vaddey Ratner - und der Übersetzerin Stephanie von Harrach.

1975, als in Kambodscha die Roten Khmer die Macht übernahmen, wurde die familiäre Herkunft, die bis dahin Schutz und Komfort bedeutete (Vaddey Ratner ist eine Nachfahrin von König Sisowath I, der Anfang des 20. Jahrhunderts über Kambodscha herrschte), plötzlich zur Gefahr.

Eines Tages ist im Hause der adligen Familie, in die Raami hineingeboren wurde, die Köchin, verschwunden; mit einer buddhistischen Zeremonie, ähnlich einem Begräbnis, wird ihrer gedacht. Kurz darauf wird Raamis Familie von den Roten Khmer aus ihrem Haus verjagt. Dramatische Szenen spielen sich ab bei der Vertreibung der Einwohner von Phnom Penh: "Vor dem Krankenhaus stützte sich eine kranke alte Frau auf den Arm eines jungen Mannes, der womöglich ihr Sohn war. Eine Krankenschwester rollte einen Patienten auf einem Krankenhausbett hinaus und rückte währenddessen den Infusionsbeutel über seinem Kopf zurecht. Neben ihr zog sich ein Arzt den Mundschutz vom Gesicht und gestikulierte aufgebracht, als wolle er die Soldaten zur Vernunft bringen. Einer drückte ihm sein Gewehr an die Stirn; der Doktor erstarrte und streckte die Hände in blutverschmierten Latexhandschuhen in die Luft."

Die Städter werden aufs Land getrieben, in eine Welt, in der es kein "festes Wasser", wie Eis dort von einem alten Mann genannt wird, gab. Raamis Familie landet zuerst in einer Tempelanlage, dann bei einem alten Bauernpaar, später in einem Arbeitslager. Ihr Vater wird von den Roten Khmer mitgenommen. Die Mutter geht damit auf eine Art und Weise um ("ihre Entscheidung, ihn zu begraben, ihn aus unserem Gedächtnis zu radieren, als hätte er niemals existiert"), die Raami ihr zunächst übel nimmt, jedoch nach und nach zu verstehen beginnt, denn es geht ums Überleben und damit dieses möglich wird, muss man schweigen. "Alle anderen Gefühle - Trauer, Bedauern, Sehnsucht - waren ohne Belang, ein privater Luxus, den wir, heimlich und jede für sich, hervornahmen und so lange hätschelten, bis er neuen Glanz bekam, bevor wir ihn wieder verstauten und uns dem Alltag zuwandten."

Was mich gleich auf den ersten Seiten für dieses Buch einnahm, ist die Denkensart der jungen Raami, die auf den Rat, seine Zunge siebenmal im Mund zu drehen, bevor man spricht, damit man nichts Unüberlegtes äussert, so bei sich denkt: "Ich drehte meine Zunge siebenmal, aber ich war nicht sicher, ob es noch zählte, wenn das Gesagte schon draussen war."

Es ist eine grausame Geschichte, die Vaddey Ratner erzählt. Gleichzeitig ist es eine Geschichte, die einem Kambodscha und die Menschen dort nahe bringt. So erfährt man etwa, wie nahe der Natur sie leben, wie verbunden mit der Welt der Geister und Gespenster sie sich fühlen. Besonders faszinierend fand ich die Naturschilderungen. "Wir hatten uns in der Zeit in Stung Khae niedergelassen, die Pok 'die Klage des Monsuns' nannte, die Jahreszeit, in der es den ganzen Morgen lang nieselte und nachmittags ein untröstlicher Wind heulte, bevor er in ein Schluchzen überging, das den ganzen Abend lang und manchmal die ganze Nacht hindurch anhielt. Während manche Lebewesen wie zum Beispiel Skorpione ertranken und starben, vermehrten sich andere wie Frösche und Kröten, die der Regen zu kakofonischen Gequake an den laichüberdeckten Teichen und Reisfeldern antrieb. Hier in der Natur schienen Leben und Tod gleichzeitig gefeiert und betrauert zu werden, keinem mass man mehr Bedeutung bei als dem anderen."

Solcher lebensbejahender Schilderungen und weiser Einsichten wegen lese ich Bücher.

Vaddey Ratner schildert, wie sich das Mädchen Raami (deren Vorbild die Autorin selber gewesen ist) den Geschichten, der Poesie, dem Magischen hingibt und sie dadurch real werden lässt. Das ist schon an sich bemerkenswert, doch ganz besonders eindrücklich ist es, weil es zur Zeit der Schreckensherrschaft der Roten Khmer, die Kambodscha in die Steinzeit zurücksetzen wollten, geschieht. Die Menschen wurden in Arbeitslager verfrachtet, wer sich den willkürlichen Beschlüssen der "Organisation" nicht unterwarf, wurde "entsorgt" - es war der unmenschlichste Versuch einer Gesellschaftsumgestaltung der jüngeren Geschichte, bei dem ein gutes Drittel der Bevölkerung ihr Leben lassen musste. Als die Vietnamesen dem Spuk schliesslich ein Ende bereiteten, gelang Raami und ihrer Mutter die Flucht nach Thailand. Sie waren die beiden einzigen Überlebenden ihrer Familie.

"Im Schatten des Banyanbaums", ein starkes, bewegendes Buch, ist ein Triumph des Lebenswillens.

Im Schatten des Banyanbaums
Stephanie von Harrach (Übersetzung)
Im Schatten des Banyanbaums
384 Seiten, gebunden
EAN 978-3293004702

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