Meine Erinnerung gleicht einer treibenden Eisscholle
Es gibt Bücher, viele sind es nicht, da fühlt man sich sogleich gepackt und hineingezogen, und zu diesen gehört ganz unbedingt Ilma Rakusas "Mehr Meer". Ja, Bücherlesen ist etwas Persönliches und, klar doch, ich spreche von mir, doch so eine Ausnahme bin ich dann auch wieder nicht, dass andere diese Lektüre nicht genauso wunderbar finden könnten. Was ist es also, dass diese "Erinnerungspassagen", so der Untertitel, so besonders macht? Einmal die aussergewöhnliche Wahrnehmungsfähigkeit der Autorin, dann aber auch die Sprache, der Rhythmus, der Ton. Das Buch beginnt mit Erinnerungen an den Vater und das liest sich, und klingt, so:
"Als er starb, hinterliess er nichts Persönliches. Keine Briefe, keine handschriftlichen Notizen, nichts. In seinem Schreibtisch lag der Autoschlüssel mit dem silbernen Mariatheresienthaler, in den Schubladen Bankauszüge, Versicherungsausweise, säuberlich geordnet. keine unbezahlten Rechnungen. Alles transparent, verständlich, korrekt. Zahlen, kleine, grosse. Ein abstrakter Kosmos. Die Kartonmappen rosa, zitronengelb, mausgrau, ohne Flecken und Knicke, geruchlos. Er hatte für uns vorgesorgt, auf lange Jahre.
Das war seine Selbstlosigkeit.
Ich roch an seinen Kleidern. Sie hingen still im Schrank. Kleiderkolonnen wie Zahlenkolonnen. Der leicht ausgefranste Pulloverärmel war tröstlich, und unten die ausgetretenen Lederpantoffeln. Fast bekam ich Mitleid mit ihnen. Argloser konnte man nicht sein. Und anhänglicher. Vor dem stummen Krawattenrudel machte ich kehrt.
Er wollte. Wollte einiges aus seinem Leben aufschreiben, weil ich ihn darum gebeten hatte. Für die Nachwelt, sagte ich, für uns, sagte ich. Er trug sich so lange mit dem Gedanken, bis es zu spät war: Er fiel vom Stuhl und blieb liegen. Ohne eine einzige Zeile zu Papier gebracht zu haben."
Das soll mir nicht passieren, stellt man sich vor, dass sich die Tochter gesagt hat und so schreibt sie auf, an was sie sich aus ihrer Kindheit und Jugend in Mitteleuropa, in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, erinnert. Geboren ist Ilma Rakusa 1946 in der heutigen Slowakei, von dort zog die Familie, der Vater ist Slowake, die Mutter Ungarin, nach Budapest, nach Barcola bei Triest, schliesslich nach Zürich, weil der Vater in ein demokratisches Land wollte, wo die Schriftstellerin, Übersetzerin und Literaturkritikerin seit 1951 lebt.
Sie fährt nach Wilna, wo ihre Vorfahren mütterlicherseits herstammen, nach Rimavska Sobota, ihren Geburtsort ("An einem klirrend kalten Novembertag des Jahres 2004 begrüsse ich die Stadt wie eine Unbekannte. Aber die Apotheke sieht wie auf dem Foto aus ... Ich bin, wo ich einst war, ohne mich zu erinnern, angekommen."), nach Budapest, nach Ljubljana, nach Triest ("Ich wollte ans Meer, immer ans Meer. Fotos, zeigen mich im knöchellangen, ungarischen Lammfellmantel, mit Wollmütze, auf der Mole von Barcola. Es muss kalt und windig gewesen sein, ich runzle die Stirn. Aber vom Meer hielt mich kein Wetter ab, höchstens die Bora."). Das Tolle an Rakusas Schilderungen ist, dass sie einen, auch wenn man ganz anders und an ganz anderen Orten aufgewachsen ist, an die eigenen Kindheitsempfindungen erinnern. Und dass sie einem das Gefühl geben, selber zu dieser Zeit an diesen Orten mit dabei gewesen zu sein:
"Im Januar 1951 brachen wir nach Zürich auf. Vater, Mutter, mein drei Monate alter Bruder, ich und unsere ganze Habe. Wir fuhren in einem Oldsmobile mit Sommerreifen. Ohne Ahnung, was uns im Norden erwarten würde. Die erste Überraschung war der Schnee, Schneewände auf dem Gotthard-Pass. In einer Kurve schlitterten wir in eine solche Wand. Sie erwies sich als gnädig: brachte uns zum Stehen, drückte dem Wagen aber nicht einmal die Nase ein ... In Zürich bezogen wir eine möblierte Mietwohnung, die zuletzt der chinesische Schriftsteller Lin Yutang bewohnt hatte. Im schwarzen Bücherschrank standen einige seiner englischen Werke, als Willkommensgruss ... (Am Rande: dass Lin Yutang, dessen sehr lesenswertes "The Importance of Living" ich vor Jahren an einem Stand mit gebrauchten Büchern in Havanna erstanden hatte, einmal in Zürich gewohnt hatte, erstaunte mich nicht wenig) ... Der Schnee kam über Nacht. Eine weisse Fracht. Er verwandelte alles: das Licht, die Geräusche, die Umgebung. Etwas Gleissendes war da, und viel Stille. Es schneite weiter. Staunend sah ich zu, wie die Flocken vom Himmel fielen und sich lautlos auf das Balkongeländer, die Büsche und Bäume legten. Schaute ich zu lange in den Flockenwirbel, wurde mir schwindlig, als wäre ich selber im Fallen begriffen."
Sehr schön auch dies:
"Ist damals damals? Ist heute heute? Die Zeit ist keine Fadenspule. Am Schnürchen aufgereiht ist nichts. Meine Erinnerung gleicht einer treibenden Eisscholle, die aufragt, untertaucht, bis sie allmählich, sehr allmählich, weniger wird.
Gegen die Auflösung ist nichts einzuwenden.
Noch aber buckelt sich dies und das. Hat Kontur. Hat Gewicht."
Der Leser ist froh darum. Und erfährt davon, was die Musik bzw. die Klänge der Autorin bedeuten ("Noch heute nähere ich mich fremden Sprachen mit dem Ohr an.") und liest von ihrer kindlichen Vorfreude auf Reisen und von der Realität des Unterwegseins ("Das Auto ist die beste Wiege. Vom Hintersitz aus beobachten, wie die Landschaft vorbeigleitet, - fliegt, beim brummenden Motorgeräusch in träge Wachheit verfallen. Was ich sehe, geht mich nichts an, tut nicht weh, da - und schon wieder weg, Bis die Konturen verschwimmen, die Augenlider schwer und schwerer werden. Die Wirklichkeit wischt vorbei und zieht, genauso unfassbar, in mein Schlafinneres.") und und und ... doch hier, nach etwa einem Drittel des Buches, soll Schluss sein mit dem Nacherzählen und Zitieren, denn wer bis jetzt nicht neugierig geworden ist auf dieses Geschenk von einem Buch, dem ist schlicht nicht zu helfen.
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