Ich gehe in ein anderes Blau

„Ein Ich, das querliegt zur Welt“

Er war ein Wilder, ein Zorniger, ein Vulgärer und ein Wortgewaltiger: der Popliterat Rolf Dieter Brinkmann. 1975 starb er im Alter von 35 Jahren in London, als ihn ein Auto beim Überqueren der Straße erwischte. Offenbar hatte er den Linksverkehr nicht beachtet. Aber für viele blieb Brinkmann lebendig - in Kritikerkreisen, bei Germanisten oder in seiner Geburtsstadt Vechta. Jetzt sorgen die Autoren Michael Töteberg und Alexandra Vasa mit ihrer überaus informativen und aufwendig recherchierten Brinkmann-Biografie dafür, dass das Leben und Werk des Schriftstellers wieder eine größere Aufmerksamkeit und Popularität bekommt. 16 hinzugefügte Fotoseiten zeigen Ausschnitte aus seinem Leben.

Brinkmanns sprachliche Ausdruckskunst ist radikal und direkt, oft derb und drastisch. Zum Beispiel, wenn er Sexuelles formuliert, was häufig vorkommt. Marcel Reich-Ranicki nannte Brinkmanns Werk „Keiner weiß mehr“ einen Sexroman. In dem Gedichtband „Westwärts 1 & 2“ des Schriftstellers fand der einflussreiche, oftmals bissige Ex-Kritiker der Frankfurter Allgemeinen „neben vielen obszönen Versen, deren Primitivität verärgert“, auch „einige Gedichte“, die „bisweilen überraschend reif klingen“. Reich-Ranicki schrieb diese Zeilen, so Töteberg und Vasa, in seinem Nachruf über Brinkmann.

Die häufig kontroverse Rezeption Brinkmanns bei seinen Schriftstellerkollegen und bei Kritikern ist ein lesenswerter Schwerpunkt der Biografie. Auch Peter Handke, Literatur-Nobelpreisträger von 2019, meldete sich nach Brinkmanns Tod mit einer Laudatio zu Wort: Dieser sei „ein Ich“ gewesen, „das querliegt zur Welt“, schreiben Töteberg und Vasa. Handke weiter: Brinkmann zeige, „dass das Ich für immer gefährdet sein wird, und das Ich nicht gerettet sein will in irgendeiner Art von politischem System.“

Im Gegensatz zu den meisten seiner Schriftstellerkollegen der 1960er und 1970er Jahre hatte Brinkmann kein großes Interesse an Politik oder an der Studentenbewegung. Die Berliner Kommune um Rainer Langhans war ihm sympathischer als „dieses starr theoretisch durchformulierte Programm von Rudi Dutschke“, zitieren die Biografen Brinkmann. Wörtlich fügen sie hinzu: „Im provokativen Auftreten, in der Herausforderung des Establishments war man sich einig, doch damit endeten auch schon die Gemeinsamkeiten mit der Studentenbewegung.“ Eine Veranstaltung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes SDS verließ Brinkmann, so Töteberg und Vasa, mit den Worten: „Bei euch Frustrierten bleibe ich nicht länger.“ 

Brinkmanns leidenschaftliches Interesse galt vielmehr der neuen amerikanischen Literatur der Beat Generation und der Underground-Szene. 1969 erschien im März-Verlag die Text-Sammlung ACID mit Beiträgen von Charles Bukowski, Allen Ginsberg, William Burroughs, Andy Warhol und vielen anderen. ACID war eine Mischung aus Lyrik, Prosa, Essays, Interviews, Textmontagen, pornografischen Texten, Comicstrips und Fotos. Neben Brinkmann fungierte sein Freund Ralf-Rainer Rygulla als Herausgeber (Interview mit Rygulla). „ACID“, kommentieren Töteberg und Vasa, „wurde zum Kultbuch und zu einem wichtigen Dokument der literarischen Subkultur jener Zeit.“

Eine wichtige, wenn auch nicht als besonders angenehm erlebte Station im literarischen Leben von Brinkmann war Rom, wo er sich von 1972 bis 1973 als Stipendiat in der Villa Massimo aufhielt. Hier entstand mit „Rom, Blicke“ ein weiteres Hauptwerk Brinkmanns. Das Stipendium, schreiben Töteberg und Vasa, zähle zu den renommiertesten Kulturpreisen in Deutschland. Die Autoren verweisen ausgiebig auf Textstellen aus „Rom, Blicke“: Das Kolosseum nennt Brinkmann einen „Schutthaufen“, die „Rundbögen“ erinnern ihn an „Stolleneingänge“. Und weiter: Die Omnipräsenz katholischer Symbole, so Töteberg und Vasa, machte Brinkmann „latent wütend, überall diese rotzige Frechheit der katholischen Kirche zu sehen“ – ebenfalls ein Zitat aus „Rom, Blicke“. 

Aber es gab auch Positives, betonen die Autoren der Biografie. So bekam die von Michelangelo entworfene Piazza del Campidoglio auf dem Kapitol ein „höchst seltenes Lob“. Brinkmann beschreibe den Platz als schön und befreiend, der mit einem „feinen Raumgefühl“ entworfen sei:  „Ich hatte das Gefühl des Raumes und nicht das eines staubigen Durcheinanders“. Besonders fasziniert war Brinkmann von einer Statue auf dem Campo de‘ Fiori. Sie stellt Giordano Bruno dar, der wegen Ketzerei auf diesem Platz am 17. Februar 1600 verbrannt wurde. In Giordano Bruno sah Brinkmann „eines der ganz wenigen Symbole für die totale Individualität des Menschen“. 

Der Titel der Biografie „Ich gehe in ein anderes Blau“ ist der Schlusssatz eines Gedichts über eine „zerstörte Landschaft“ und eine „Zugfahrt“ aus der Sammlung „Westwärts 1 & 2“. Das „andere Blau“ beschreibt eine „andere“ Realität, eine „andere“, neue Perspektive auf die Welt – gewissermaßen als Gegenentwurf zur „normalen“, herkömmlichen Welt. Brinkmann wollte radikal anders sein, sich absetzen – von den Einflussnahmen in seiner Kindheit und Jugend und von den gängigen, etablierten Normen der Poesie und des Literaturbetriebs.

Brinkmann besuchte ab 1951 das Gymnasium Antonianum in Vechta. Nach den Worten der Biografen war die Schule für Brinkmann „ein einziger Schreckensort, das Lehrerkollegium erschien ihm als wahres Horrorkabinett.“ Weiter heißt es: „Die Verachtung und Bösartigkeit, mit der Brinkmann noch viele Jahre später über seine Lehrer herzieht, lässt erahnen, wie sehr er in der Schule gelitten haben muss.“ 1957 musste Brinkmann die Schule aufgrund mangelnder Leistungen ohne Abitur verlassen. Heute schmückt sich das Antonianum mit einem großen Foto des Schriftstellers vor dem Eingang zur Aula. Seine Geburtsstadt Vechta ehrte den „Sohn der Stadt“ im April 2025 mit einer Ausstellung im Foyer des Rathauses. „For the times they are a-changing“. 

Ich gehe in ein anderes Blau
Ich gehe in ein anderes Blau
Rolf Dieter Brinkmann - eine Biografie
397 Seiten, gebunden
Rowohlt 2025
EAN 978-3498003920

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