Vorgänge und Verhältnisse in einem I.G. Farben Werk
Seit nunmehr einem Jahrzehnt erfreut sich die Unternehmensgeschichtsforschung einer ungebrochenen Konjunktur. Angestoßen durch die Entschädigungsdebatte über den Zwangsarbeitereinsatz setzten viele Unternehmen nach und nach Historikerkommissionen ein, um das dunkle Kapitel "Drittes Reich" für sich aufarbeiten zu lassen. Die I.G. Farben als Inbegriff von Ausbeutung und Kollaboration mit dem NS-Regime fand dabei besondere Aufmerksamkeit. Mit den Werken von Gottfried Plumpe und Peter Hayes liegen dazu bereits profunde Studien vor. Was war aber mit den einzelnen Werken, die im Konglomerat der I.G. Farben integriert waren? Bisher klaffte zu dieser Thematik eine große Lücke.
Stephan H. Lindner, der mit seiner Untersuchung der westdeutschen Textilindustrie nach 1945 auf sich aufmerksam machte, hat nun eine umfangreiche Analyse der Farbenwerke Hoechst im Dritten Reich vorgelegt. Seinen Schwerpunkt legt der Autor dabei auf das Verhältnis des Konzerns zu seinen Arbeitern, der NSDAP und dem Staat. Es sollen so die Handlungsspielräume der Konzernspitze ausgelotet werden, die sich durch die veränderten Rahmenbedingungen verschoben. Hinsichtlich der Beziehung der Werksleitung zur Arbeiterschaft fällt das Ergebnis Lindners mehr oder weniger eindeutig aus. Bereits kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten war das Leben und Arbeiten der Belegschaft von Anpassung an die neuen politischen Verhältnisse sowie Ausgrenzung und Verfolgung anders denkender und "andersrassiger" geprägt. Mit massivem Druck gelang es der Werksleitung die oktroierten Gesetz nicht nur nach unten weiterzugeben, sondern auch in ihrem Sinne auszuweiten bzw. zu interpretieren.
In dem zweiten großen Themenbereich behandelt der Autor die produktive Seite von Hoechst. Infolge der Medikamentenherstellung kam es in Hoechst auch zu Menschenversuchen. Die hergestellten Präparate wurden in Konzentrationslagern (besonders in Dachau) an Menschen getestet. Der Leiter der Pharmazeutischen Abteilung, Carl Ludwig Lautenschläger, hatte an dieser Entwicklung entscheidenden Anteil. Dennoch wurde er in den Nürnberger Prozessen freigesprochen. Ein Fehlurteil unter vielen in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Lindner kann zwar nicht nachweisen, ob auch Testreihen in Auschwitz vorgenommen wurden, jedoch konnte er aufgrund der Indizien schlüssig nachweisen, dass die führenden Köpfe von Hoechst wussten, was in den Konzentrations- und Vernichtungslagern passierte. Jegliche Moral wurde bei den Wissenschaftlern und Unternehmen über Bord geworfen. In einem kurzen letzten Kapitel schildert Lindner das Kriegsende bei Hoechst sowie den Wiederaufbau und die Auswirkungen der Nürnberger Prozesse auf das Unternehmen.
Obwohl es sich um eine Spezialstudie handelt, gelingt es Lindner, überzeugend und kurzweilig den Weg des I.G. Farben Werks darzulegen. Gerade die ausgewählten zwei Hauptschwerpunkte tragen dazu bei. So entstand keine Aneinanderreihung vieler Fakten, sondern die Fokussierung auf das wesentliche. So manche wissenschaftliche Untersuchung sollte sich hieran ein Beispiel nehmen.
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