J. G. Ballard: High-Rise

Alle gegen alle in der Gated Community

Fällt der Name J. G. Ballard, fällt auch unweigerlich das Wort Dystopie, denn in seinen Romanen - jedenfalls in denen, die ich kenne - brechen regelmässig die Barrieren der Zivilisation, löst sich die gewohnte Ordnung auf, gelten die vertrauten Regeln nicht mehr.

High-Rise erschien ursprünglich 1975, könnte jedoch auch aus dem 2005 oder 2035 stammen. Denn Ballards Visionen sind zeitlos. Und sie sind beklemmend, düster und wesentlich.

Es sei ein Irrtum anzunehmen, dass wir uns auf einen Zustand des glücklichen Primitivismus zubewegen, lässt Ballard einen Psychiater sagen. "Das Modell scheint hier weniger der edle Wilde zu sein als vielmehr unser ganz und gar nicht unschuldiges post-freudianisches Selbst, dem durch alle jene übernachsichtige Erziehung zu persönlicher Sauberkeit, das hingebungsvolle Stillen und die elterliche Zuneigung Gewalt angetan wird - offensichtlich eine gefährlichere Mischung als alles, womit unsere viktorianischen Vorfahren fertig werden mussten. Unsere Nachbarn hatten ausnahmslos eine glückliche Kindheit und sind dennoch wütend und zornig. Vielleicht ärgern sie sich darüber, dass sie nie die Chance hatten pervers zu werden ...".

Die Nachbarn, die der Psychiater meint, sind die Bewohner (zweitausend an der Zahl) eines Hochhauses, einer hochmodernen Luxusanlage für die gutsituierte Mittelklasse, mit Restaurants, Swimmingpools, Supermarkt, Bank und Grundschule. "Das Hochhaus war eine gewaltige Maschine, die nicht dafür bestimmt war, dem kollektiven Ganzen der Bewohner zu Diensten zu stehen, sondern dem individuellen, isolierten Wohnungsinsassen."

Drei dieser Wohnungsinsassen spielen in High-Rise eine prominente Rolle. Der allein lebende Dr. Robert Laing, Dozent an der medizinischen Hochschule ("Seine eigene Ehe mit einer Ärztin und Spezialistin für Tropenmedizin war eine kurze, aber totale Katastrophe gewesen, das Ergebnis von weiss der Himmel was für Bedürfnissen.). Der zunehmend sich in Gewalt steigernde Fernsehjournalist Richard Wilder, dessen Frau die Lage so kommentiert: "Dick, es ist eine riesige Kinderparty, die ausser Kontrolle geraten ist." Der Architekt Anthony Royal, der bei der Planung des Hochhauses mitgeholfen hatte.

Das Leben der drei (und auch vieler anderer) trifft schicksalshaft aufeinander, als das Hochhaus immer weniger so funktioniert wie es hätte funktionieren sollen. Aufzüge blockieren, Müllschlucker versagen ihren Dienst, Klassengegensätze (Wer auf welcher Etage wohnt, wem welcher Parkplatz zusteht, bemisst sich nach Einkommen und Status) brechen auf, Szenen wie im Krieg (brutale Angriffe, gewaltsames Eindringen in Wohnungen, Vergewaltigungen) sind an der Tagesordnung.

Je mehr wir uns vereinzeln, desto brüchiger wird der soziale Kitt, ohne den unser gemeinsames Überleben nicht nur nicht möglich ist, sondern der Willkür, Gewalt und Barbarei Tür und Tor öffnen. Dass J. G. Ballard für sein Schreckenszenario eine "Gated Community", diese "No-Go Area" für die finanziell Begüterten, ausgesucht hat, zeugt für seinen Weitblick. Seine Fähigkeit, Dinge vorauszusehen, gründet darin, dass er genau hinschaut und illusionslos konstatiert, dass der Mensch immer noch viel archaischer (primitiver, gewalttätiger) funktioniert, als er annimmt.

Es ist ein bedrückendes, humorfreies Bild, das Ballard von den Ereignissen im vollkommen aus den Fugen geratenen Hochhaus zeichnet. Überzeugend beschwört er Stimmungen herauf, von denen wir alle lieber nichts wissen, mit denen wir uns jedoch auseinandersetzen sollten, um so ein High-Rise-Schreckensszenario zu vermeiden.

High-Rise
Michael Koseler (Übersetzung)
High-Rise
256 Seiten, broschiert
Originalsprache: Englisch
Diaphanes 2016
EAN 978-3037349328

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