Heiner Wilmer: Herzschlag

Heiner Wilmer, Etty Hillesum und die Frage nach Gott

Für außergewöhnliche Denkwege ist Heiner Wilmer, katholischer Theologe, Ordensmann und seit 2018 Bischof von Hildesheim, seit einiger Zeit medial und publizistisch bekannt. Immer wieder sucht der Geistliche das Gespräch mit Andersgläubigen, Suchenden und Zweiflern, legt Bücher vor, die zum Mit- und Weiterdenken anregen, abseits der oft trostlos, narkotisch und schlicht langweilig anmutenden Kirchenpolitik dieser Zeit. Wilmer sucht geistliche Vertiefungen. Er berichtet von Meditationen und Exerzitien, stellt Gedanken vor, die ihm im inneren Zwiegespräch mit den Tagebuchnotizen von Etty Hillesum – einer am 30. November 1943 im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau ermordeten jungen Jüdin – gekommen sind.

Heiner Wilmer führt mitnichten einen interreligiösen Dialog, aber er zeigt mit großer Anteilnahme und Sympathie die geistige Gemeinschaft von Judentum und Christentum auf. Es ist für einen Christen ein nicht nur spirituelles Wagnis, sich den Überlegungen von Etty Hillesum anzunähern. Wilmer vereinnahmt nicht, er nähert sich an, leise, behutsam, tastend. Auf gewisse Weise wird ihm die junge Frau zur Weggefährtin: „Kaum eine Lektüre hat mich in der letzten Zeit so getröstet wie ihr Tagebuch. Sie lebt ihr Leben. Ihr ganz eigenes Leben. Von niemandem lässt sie sich verstellen. Sich ihre Überzeugung nehmen. Von niemandem lässt sie sich das Herz aus der Brust reißen. Ein Herz, das groß ist für jeden, für alle, ja für die ganze Welt. Und darüber hinaus sogar, und das ist das Unfassbare, auch für ihre Feinde.“ Ein faszinierender Gedanke: Etty Hillesum, verfolgt vom NS-Regime, lebt von der Liebe, lebt aus der Liebe, und diese Liebe reicht sehr, sehr weit, getragen von einem „Blick für das Große und das Schöne“, inmitten von finsteren Zeiten und Lebensumständen.

2020, am Anfang der Corona-Jahre, wählt Wilmer ihre Schriften aus, um sich zu besinnen, um Einkehr zu halten und zeigt sich immer wieder überrascht, auf positive Weise, bereichert von dem Reichtum ihrer Betrachtungen, Gedanken und Überlegungen dieser „genialen Liebhaberin des Lebens“, die sich oft inwendig zerrissen fühlt, Spannungen mitansieht und aushält, in der Familie. Die Gestapo kontrolliert in den besetzten Niederlanden die Straßen. Juden werden abtransportiert. Einige begehen Suizid. Die Verzweiflung greift um sich. Wilmer schreibt: „Du bist eine genaue Beobachterin. Du schaust dir die Menschen an, die Natur, die Blumen, die Gräser. Du schaust alles ganz genau an, so als wolltest du das, was du siehst, aufsagen, ganz in dein Inneres aufnehmen, dir das, was du siehst, einverleiben.“ Auch Wilmer erweist sich als aufmerksamer Beobachter, als genauer, resonanzvoller Leser, der diese Leidenschaft für das Leben sensibel wahrnimmt, als kostbar anerkennt und darüber nachdenkt, wie dieses Mädchen, diese junge Frau von der Frage nach Gott bewegt ist, aber die „Scham“ fühlt, sich über Gott zu äußern. Dem Tagebuch vertraut sie ihre Reflexionen an. An Gott zu glauben, so Wilmer, sei eine „Option“ unter vielen. Gott könne, so überlegt Etty, „nicht helfen“, zu ihrer Zeit, in ihrer Situation, aber „wir müssten ihm helfen“. Wilmer schreibt: „Wer ist Gott für dich? Wie stellst du dir Gott vor? Sicher, mir ist schon bewusst, dass wir uns Gott nicht vorstellen, uns kein Bild von ihm machen sollten. Und dennoch, welche Empfindungen hast du, wenn du an Gott denkst, welche Farben löst er in dir aus, welchen Geruch, welchen Ton, welche Musik, welche Melodie? Wie viel Liebe verbindest du mit ihm, wie viel Schatten, wie viel Nebel, wie viel Stille, wie viel Säuseln, wie viel Sturm, wie viel Sonne, wie viel Nacht? Was fühlst und spürst du, wie fühlt sich Gott an? Was ist Gott?“ Wilmer stellt Fragen, die in ihm aufsteigen, wenn er Etty Hillesums Gedanken liest, und er tut etwas sehr Wichtiges: Diese Fragen gehen hinein in einen offenen Raum, sie treiben nicht in die Enge und zwingen nicht zur Antwort.

Die „Option Gott“, so Wilmer, ermöglicht Horizonte, verhelfe zu einer „anderen Tiefe“, zu einer Offenheit für das „Universum, das von einem besonderen Ton erfüllt ist, von einer besonderen Musik, von einer einzigartigen Melodie“. Etty Hillesum sei stets über sich hinausgegangen, in die Welt hinein, zu anderen, zu den Menschen, in die Natur: „Und du überschreitest dich, wenn du dich in deine kleine Ecke zurückziehst, in dein Zimmer, deinen geliebten Winkel, wo du dich hinhockst, manchmal mit angezogenen Knien … Du sagst Gott, wie du ihm an diesem stürmischen grauen Sonntagmorgen den duftenden Jasmin darbringst.“ Fasziniert sei er davon, schreibt Heiner Wilmer, dass Etty Hillesum sich den Blick für das Schöne nicht nehmen lasse: „Das Schöne, das dein Herz höherschlagen lässt, dich erhebt, deine Augen weitet, deine Sinne aufsperrt, dir Trost gibt, Hoffnung.“

Wilmer fragt sich schließlich, wie Etty betet, denn beim Beten gehe es „um nichts weniger als um Leben und Tod“. Findet er darauf eine Antwort? Er begibt sich auf Spurensuche, stellt immer wieder neu die Frage: „Wie geht Gebet?“ Heiner Wilmer spricht von der Verbundenheit von Juden und Christen, die er bei der intimen Lektüre der Tagebücher von Etty Hillesum neu innerlich erfahren und vertieft kennengelernt hat, eine Verbundenheit, die über Juden und Christen hinausreicht: „Es gibt nur ein großes Ganzes. Und so gehören auch wir zusammen, Juden und Christen und die vielen anderen Menschen, die in Gott ihren Anker werfen, die sich nach dem Urquell sehnen, nach diesem inneren Strom, der nie endet, der die größte Inspiration aller Zeiten ist, mit dem jede und jeder verbunden ist und über den wir mit allen anderen Menschen dieser Welt und der gemeinsamen Natur in Verbindung stehen.“ So werden die Überlegungen des Bischofs von Hildesheim zu einer Hymne an das Leben, im Wissen um den Schmerz, den dieses Leben und seine Abgründe bereithalten, so auch für Etty Hillesum. Dieses bemerkenswerte Buch dürfte religiöse Leser sehr ansprechen – und ebenso auch alle, die den Horizont ihres Fragens und Suchens offenhalten, auch wenn sie mit Blick auf die Welt, in der wir leben, vielleicht von einer großen Skepsis erfüllt sind.

Herzschlag
Herzschlag
Etty Hillesum – Eine Begegnung
160 Seiten, gebunden
Herder 2024
EAN 978-3451034923

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