Helmut Schmidt – Freund und Liebhaber der schönen Künste
Helmut Schmidt war ein Mann mit vielen Begabungen und Eigenschaften. Der 2015 verstorbene ehemalige deutsche Bundeskanzler verfügte über philosophische Interessen und umfassende ökonomische Kenntnisse. Seine Affinität zu den schönen Künsten, ob Literatur, Musik oder Malerei, war zwar weithin bekannt, aber nicht grundlegend erforscht. Schmidts Amtsvorgänger Willy Brandt wurde von vielen Künstlern verehrt und bewundert. Nach dem Rücktritt 1974 bezog ein anderer Kunstliebhaber das Kanzleramt. Intellektuelle begegneten ihm mit Vorbehalten, Künstler auch. In Werner Irros Buch werden diese Facetten von Helmut Schmidt deutlich und anschaulich vorgestellt.
Die künstlerische Sehfähigkeit hatte der junge Helmut bereits als Schüler der Hamburger Lichtwarkschule gelernt. Er begegnete dort gewissermaßen den beiden großen Lieben seines Lebens: Hannelore Glaser, genannt Loki, und der Kunst. Die Lehrer dort weckten Sympathien, förderten das Gespür für die Künste. Die Schmidts blieben der Lichtwarkschule ihr ganzes Leben hindurch in tiefer Dankbarkeit verbunden, hanseatisch nüchtern, aufrichtig, fernab jeder nostalgischen Verklärung.
Werner Irro weist auf eine lebensgeschichtliche Besonderheit hin: "Erst als Kanzler wurde sich Schmidt der Reichweite der Bedeutung bewusst, die Kunst für ihn besaß. Erst als Kanzler brachte er diesen Teil seiner Sozialisation an geeigneter Stelle mit ein. Und erst damit konnte aus dem Politiker derjenige werden, der eine für jedermann erkennbare zugängliche Seite besaß. Diesen Schmidt konnte die Öffentlichkeit in den langen Jahren nach seiner aktiven Politikkarriere schätzen und bewundern lernen. Doch dazu hatte sich Schmidt zu seiner Affinität zu den Künsten bekennen, dazu hatte er sich als Kunstliebhaber mit seiner ganz eigenen biografischen Geschichte zeigen müssen." Für Kunst öffentlich eingetreten war er lange vorher. Beispielhaft hierfür genannt sei eine Rede aus dem Wahlkampf 1969. Manche meinten, so Schmidt, ein Leben ohne Kunst führe zu einer "Verödung des Daseins". Dem widersprach er. Schmidt sagte, er halte "ein Dasein ohne künstlerisches Erlebnis für schlechthin unmöglich". Abschließend bekräftigte er: "Der eine mag sich an Skulpturen erfreuen, der andere an Gemälden, der dritte an Symphonien und der vierte an Kammermusik oder Opern. Dieser wird sich der Lyrik verschreiben, jener der Dramatik; aber ohne dies alles kann keiner von uns leben." Werner Irro erläutert dies präzise mit einer beiläufigen Bemerkung, die alles Wesentliche sagt: "Den letzten Halbsatz hat Schmidt in seinem Redemanuskript unterstrichen." Diese wohltuende unprätentiöse Art der wissenschaftlichen Kommentierung hätte auch Helmut Schmidt begrüßt.
Der Kanzler nahm sozialpolitische Probleme schneller und klarer wahr als sein mitunter unbestimmt bleibender Vorgänger Brandt. Der musisch begabte Schmidt erkannte und verstand das Problem der finanziellen Absicherung des Berufsstandes der Künstler. Die Einrichtung der seit 1983 bestehenden Künstlersozialkasse in Wilhelmshaven geht auf seine Initiative, auf seinen Nachdruck und auch auf seine Beharrlichkeit zurück. Er handelte wirklichkeitsorientiert: "So sehr der Kanzler versuchte, erste Schritte auf Künstler und kritische Intellektuelle – die Vertreter der Welt der Gedanken – zuzugehen, es wird doch deutlich, wo sein Denken zu Hause ist. Es ist geprägt von Verantwortungsethik, von Pflichtbewusstsein; der Blick richtet sich auf das Machbare und die dafür notwendigen Schritte im Tagesgeschäft." Dazu gehörten Gespräche über die Künstlersozialversicherung. Dieter Lattmann, Mitglied des Bundestages seit 1972, schärfte die Wahrnehmung hierfür. Brandt nahm die Initiativen und Überlegungen zur Kenntnis. Doch er "ließ das Ganze auf sich beruhen", Helmut Schmidt "reagierte mit Interesse". Er verstand die Problemlage sehr genau. Ein langer Weg stand bevor, der mühsam und konfliktreich war. Irro zeichnet diese Stadien sorgfältig nach. Zum 1. Januar 1983 wurde die Künstlersozialkasse eingerichtet: "Als das Gesetz schließlich in Kraft trat, war mit Helmut Kohl bereits ein neuer Regierungschef ins Kanzleramt eingezogen. Acht Jahre war es her, dass die Regierung Schmidt den Künstlerbericht vorgelegt hatte, die Keimzelle für das Gesetz. Helmut Schmidt hielt am 17. September 1982 seine Rücktrittsrede im Deutschen Bundestag, zur gleichen Zeit fand in Wilhelmshaven die konstituierende Sitzung des Beirats der Künstlersozialkasse statt. … In keinem anderen Land gibt es ein vergleichbares Gesetz. Für Künstler aus allen Sparten entfaltet es bis heute eine segensreiche Wirkung." Auf eine feierliche Formulierung wie "segensreich" hätte Helmut Schmidt wohl selbst verzichtet. Aber er hätte zugestimmt, dass es nicht genüge, etwas als richtig zu erkennen und zu beurteilen, dann aber die Mühen zu scheuen, für das, was notwendig ist, auch nachhaltig zu arbeiten. Manches dauert seine Zeit, dazu gehörte auch die Gründung der verdienstvollen Künstlersozialkasse.
Unter Helmut Schmidt wurden die Diensträume der Regierung für Musikveranstaltungen geöffnet. Konzerte fanden regelmäßig statt. Der Hausherr lud ins Palais Schaumburg oder ins Kanzleramt ein. Irro schildert, dass der Kanzler in den 1970er-Jahren, als es förmlich und formeller zugegangen war, auf die Frage, wo die Künstler sich umziehen sollten, geantwortet habe: "Macht das doch am Kabinettstisch!" Auf die Konzerte, unter anderem traten Yehudi Menuhin und Christoph Eschenbach auf, folgte ein geselliger Abend, zwanglos, ohne protokollarische Vorgaben, mit bis zu einhundert Gästen: "Über alles durfte nun geredet werden, nur nicht über Politik und Geschäfte."
Schmidt öffnete das Kanzleramt für Kunstausstellungen. Er begründete dies mit der historischen Verantwortung, vor allem aber betonte er auch die geistige Freude am Schönen. Diese wertvolle Erfahrung bereichere das Leben. Von seiner Liebe zu Worpswede hat er oft gesprochen: "1937 war Helmut Schmidt als junger Rekrut in Vegesack bei Bremen stationiert gewesen. An den Wochenenden besuchte er öfter einen Freund seines Vaters, der in Fischerhude wohnte, die Fahrkarte für die Bahnfahrt nach Hause konnte er sich nicht immer leisten. Hier in Fischerhude – und eigentlich ist Fischerhude der Gegenstand seiner Liebeserklärung – fand er Zugang zu dem Haus von Olga Bontjes van Beck, Anfang vierzig, Tochter eines Malers, die auch selbst malte. Hier trafen sich Menschen, die alle auf irgendeine Weise künstlerisch tätig waren, und frei über alles sprachen, was sie bewegte. Es war die Atmosphäre in diesem Haus, die den jungen Schmidt, der seine Tage bei der Wehrmacht zubrachte, faszinierte. Es war eine Atmosphäre der Begegnung, des Gesprächs und der Kunst." Ihn entsetzte, dass die Kunst im NS-Staat als "entartet" diffamiert wurde. Diese "erschreckende Erfahrung" wurde für ihn zu einem "existenziellen Erlebnis". Seine Verbundenheit zu der expressionistischen Kunst vertiefte und weitete sich immer mehr.
Am 21. Dezember 1981 trat der Bundeskanzler selbst als Künstler auf. Justus Frantz suchte einen dritten Pianisten für die Einspielung von Mozarts Konzert für drei Klaviere und Orchester KV 242. Der mit Frantz gut bekannte Schmidt, öffentlich zunehmend im "Gegenwind", sagte zu: "Ein kleiner Anteil Gedankenlosigkeit mochte bei Schmidts ungewöhnlichem Ausflug in die Musikbranche dabei sein, ein großer Anteil an Selbstbewusstsein und bestimmt auch ein Quäntchen Lust, die Vorhaltungen, nur als Macher über Qualitäten, einmal auf einem originellen Spielfeld frech zu widerlegen." Das dritte Solo-Klavier ist – vergleichsweise – leicht zu spielen, für einen amtierenden Bundeskanzler aber ein Wagnis, ja eine Herausforderung, die er souverän bestand. Er konnte nach Noten spielen, sogar mit einer gewissen Leichtigkeit. Der Schachspieler saß am Klavier – erst im Londoner Studio, später in der Öffentlichkeit. Als "Kunstfreund" agierte er in allem "glaubhaft und stimmig": "Helmut Schmidt hat als Kanzler viel auf die Beine gestellt, außergewöhnlich viel, was mit Kunst zu tun hatte. Die kumulative Wirkung dieser Aktivitäten ist nicht zu unterschätzen. Noch wichtiger war, wie offensiv er dabei das Kanzleramt geöffnet hatte. … Schmidts Eintreten für die expressionistischen Künstler entsprach seiner persönlichen Leidenschaft. Als Kanzler konnte er ihr auf vielfältige, für alle sichtbare Weise Ausdruck verleihen. Einzig aus diesem Grund konnte daraus eine »Story« werden. Eine glaubwürdige Geschichte, nicht eine von PR-Strategen ersonnene."
Am 12. Dezember 1968 schrieb Helmut Schmidt an seinen späteren Freund und Weggefährten Siegfried Lenz. In diesem Brief wird die innere Bindung von Schmidt an die schönen Künste sichtbar: "Lieber Herr Lenz, mit großem Vergnügen und mit tiefer innerer Zustimmung haben sowohl meine Frau als auch ich in den letzten Wochen Ihre »Deutschstunde« gelesen. Da wir uns nach bisheriger Erfahrung nur sehr selten und per Zufall sehen, wollte ich Ihnen dies gerne sagen, zumal ich hoffe, daß es Sie freuen wird. Vielleicht darf ich noch hinzufügen, daß ich meine norddeutsche Heimat und ihre Menschen im übrigen hervorragend getroffen fand. Seit meinem 16. Lebensjahr ist Emil Nolde für mich, gemeinsam mit Ernst Barlach, der grösste deutsche Künstler dieses Jahrhunderts; seine Einreihung in die NS-Ausstellung sogenannter entarteter Kunst löste bei mir als damals Siebzehnjährigen den Bruch mit dem Nationalsozialismus aus."
Werner Irros Buch zeigt Helmut Schmidt als Freund und Liebhaber der schönen Künste. Diese präzise Studie ist ein wegweisendes, wichtiges Buch. Dass der bis zu seinem Lebensende schriftstellerisch tätige Schmidt auch ein guter Menschenkenner und vorzüglicher Autor war, könnte noch entdeckt werden. Seine Bücher, darunter Bände wie "Weggefährten" oder "Außer Dienst", dürfen wir auch heute noch immer "mit großem Vergnügen und mit tiefer innerer Zustimmung" lesen.
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