Ein ganz besonderer Pianist
Kein deutscher Bundeskanzler wurde nach dem Ende der Amtszeit so verehrt, respektiert und anerkannt wie Helmut Schmidt – über alle Parteien hinweg. Die politische Klarheit seiner Analysen, die hanseatische Nüchternheit der Diktion und die Souveränität seines Auftretens fanden Zustimmung und Bewunderung. Vielleicht wird heute kaum jemand so sehr vermisst wie der 2015 im Alter von 96 Jahren in Hamburg-Langenhorn verstorbene Helmut Schmidt. In Porträts, Biografien und wissenschaftlichen Studien wurden und werden der Lebensgang des Politikers sowie dessen Ansichten und Einsichten gewürdigt. Reiner Lehberger, ein Vertrauter von Helmut und Loki Schmidt, widmet sich in seinem neuen Buch vorwiegend dem Kunstliebhaber Schmidt und zeichnet akkurat dessen Passion für die Musik nach, ohne die Verbindungen zur Politik gänzlich unberücksichtigt zu lassen.
In den Kanzlerjahren nahm sich Helmut Schmidt Zeit für die Künste, unter und mit Freunden – "spätestens am Klavier" habe der Kanzler die "Hektik der Hauptstadt und des politischen Amtes hinter sich gelassen". Er wirkte "höchst vergnügt", trotz der Strapazen, denen er ausgesetzt war, trotz der gerade in den Bonner Jahren ihm immer wieder zusetzenden gesundheitlichen Probleme. Schmidt spielte also Klavier, auch wenn er rückblickend die ersten Jahre des Unterrichts in der Kindheit eher als Pflicht denn als Freude ansah. In der Hamburger Lichtwarkschule lernte er die Kunst, vor allem auch die Musik lieben: "Die in diesen frühen Jahren geformte Beziehung zur Musik und zur Kunst hielt ein Leben lang. Und da dies auch für seine Mitschülerin und spätere Ehefrau Loki Schmidt galt, wurde die Liebe zu Musik und Kunst ein wichtiges Bindeglied für das Paar."
Helmut Schmidt reizten die "technischen Anforderungen klassischer Musik", er spielte auch gern allein und improvisierte. Besonders zugetan war er dem Werk von Johann Sebastian Bach. Zudem liegen drei Konzerteinspielungen vor, mit Christoph Eschenbach und Justus Frantz, aus den Jahren 1981, 1983 und 1985. Schmidt suchte auch das Gespräch mit Musikern, etwa mit Yehudi Menuhin, Leonard Bernstein und Herbert von Karajan. Die öffentliche und mediale Wahrnehmung, er habe wie ein "Pragmatiker" oder "Technokrat der Macht" agiert, missfiel ihm. Heute steht außer Frage, dass kein Kanzler der Bundesrepublik Deutschland vor ihm und nach ihm ein so besonderes Verhältnis zu den Künsten hatte wie Helmut Schmidt. Musik war für ihn zeitlebens eine "Herzensangelegenheit", von der Schulzeit an, aber auch bestärkt durch seine persönlichen Beziehungen nach Fischerhude und durch die Freundschaft mit Olga Bontjes van Beek: "Es scheint, als hätte sich hier seine Affinität zu den Künsten als wesentlicher Teil seiner Persönlichkeit gefestigt und durch die lebenslangen Verbindungen zu Künstlern dieses Ortes auch immer wieder erneuern können. Hier hat er Einblick in den Schaffensprozess von Künstlern nehmen können, er hat sich mit ihnen über ihre Kunst unterhalten und viel von ihren Intentionen, den eingesetzten künstlerischen Mitteln und verschiedenen Materialien in Erfahrung gebracht. Hier festigte sich seine Liebe zu den Motiven seiner norddeutschen Heimat, und nicht zuletzt hat er in Fischerhude auch sein Klavier- und Orgelspiel weiterentwickeln können."
Die tiefe Verbundenheit zur Musik dauerte fort. Immer wieder zitierte Helmut Schmidt Bachs Wort, dass die Musik zur "Rekreation des Gemüts" wesentlich beitrage. Damit meinte er nicht, dass Musik bloß entspanne, eher dass diese helfe, zur Ausgeglichenheit der Seele zurückzufinden und zu einer Form der Gelassenheit führe, um die Widerfahrnisse in der Welt zu ertragen. Eine hohe Affinität zur Musik besaß Schmidt also unbestreitbar. Dass ihm eine "hohe Affinität zum Militärischen … zweifelsfrei auch nach dem Krieg erhalten geblieben" sei, daran mag begründet gezweifelt werden. Die Beziehung zur Musik war frei von Ambivalenzen. In dem Sinne, wie Lehberger andeutet, hat sich Helmut Schmidt nie über das Militär geäußert – wie etwa seine klarsichtige Rede vor den Rekruten beim Bundeswehr-Gelöbnis 2008 beispielhaft zeigt. Der alte Helmut Schmidt war gänzlich frei von Idealisierung und Verklärung des Soldatentums.
In den Regierungsjahren nutzte er den Schiedmayer-Flügel im Kanzlerbungalow: "Schmidt selbst, aber auch alle, die ihn näher kannten, einschließlich der Hamburger Sicherheitsbeamten, bestätigen, dass es zu den Ritualen des Kanzlers gehörte, sich nach den langen Dienstzeiten noch ans Klavier zu setzen, um ein wenig zu improvisieren. An manchen Abenden wurde das Klavierspiel durch eine Partie Schach oder eine Runde Tischtennis des Ehepaars Schmidt ersetzt." Lehberger beschreibt, dass Helmut Schmidt von Intellektuellen und Künstlern nicht in gleicher Weise im Wahlkampf unterstützt wurde wie sein Amtsvorgänger Willy Brandt. Er pflegte aber zahlreiche private Kontakte und Freundschaften zu Künstlern, die der SPD verbunden waren, so etwa zu Siegfried Lenz, aber freilich nicht deswegen, weil sie der SPD nahestanden.
Auch in der RAF-Zeit, so am 9. Mai 1976, fanden Hauskonzerte im Kanzleramt statt. Schmidt entschied sich dagegen, das Konzert an dem Tag, als Ulrike Meinhof sich das Leben genommen hatte, abzusagen: "Die aktuelle Politik wollte Schmidt bei seinen Hauskonzerten außen vor lassen, daran hielt er sich auch an diesem Abend. In seiner Einleitung des Konzerts erwähnt er den Selbstmord Ulrike Meinhofs mit keinem Wort. Auch das war eine Aussage." Doch 1977 wurde, im sogenannten "Deutschen Herbst", wurden die Planungen für ein Konzert im Kanzleramt dann doch ausgesetzt.
Ende 1981 nahm Helmut Schmidt mit Eschenbach und Frantz das Mozart-Konzert für drei Klaviere in London auf: "Als die Schallplatte veröffentlicht ist, werden der Öffentlichkeit Fotos präsentiert, die es in dieser Form von einem deutschen Kanzler noch nie gegeben hat. Ein Politiker, der auch als Musiker konzentriert seine Aufgabe angeht und nach dem Konzert, auf den Flügel gestützt, zufrieden und sympathisch in die Kamera blickt." Seine Zeit als Kanzler aber wird am 1. Oktober 1982 enden, mit einem konstruktiven Misstrauensvotum.
Die Zuneigung und Liebe zu den Künsten vertieft Helmut Schmidt in der Zeit danach, auch als gesundheitliche Probleme zutage treten: "Auf seinem Flügel spielte Schmidt von nun an bis zum Ende seines langen Lebens. Eine fortschreitende Schwerhörigkeit wurde zwar zur Plage seines Alters, aber dennoch spielte er weiter, selbst als er das eigene Spiel nicht mehr hören konnte." Nur noch Loki durfte ihm zuhören. Einfühlsam schreibt Reiner Lehberger: "Konzerte, die das Paar so sehr geliebt hatte, wurden fortan nicht mehr besucht. Loki zeigte sich entschieden solidarisch und lehnte es ab, allein Konzerte zu besuchen. Mit dem Verlust der Konzertbesuche wurde das eigene Klavierspiel umso wichtiger für Helmut Schmidt, wenn er die Noten, die er spielte, akustisch kaum mehr vernehmen konnte, war ihm die innere Vorstellung von den Klängen seines Klaviers erhalten geblieben. Auch die Freude und tiefe Entspannung, die er beim Klavierspiel empfand, waren ihm nicht verloren gegangen und stellten sich ein, sobald er auf der Klavierbank an seinem Steinway-Flügel Platz nahm und zu spielen begann. Die Töne waren aus seinem Leben verschwunden, das eigene Klavierspiel jedoch nicht gänzlich."
Reiner Lehberger legt ein facettenreiches, lesenswertes Porträt von Helmut Schmidt vor, dem viele Leser zu wünschen. Bei der Lektüre mag die eine oder der andere auch versonnen an einen charakterstarken, integren, ernsten und klugen Staatsmann zurückdenken, an einen Politiker, der die Künste und ganz besonders die Musik aufrichtig und leidenschaftlich liebte.
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