Hans-Werner Sinn: Kasino-Kapitalismus

Die Gier kanalisieren

Nicht wenige Aussagen von Hans-Werner Sinn schockieren im vorliegenden Buch, so zum Beispiel der Befund, dass die Welt in die schlimmste Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg geschlittert ist, im Oktober 2008 nur knapp eine Kernschmelze des Weltfinanzsystems vermieden werden konnte und die Zahlungsfähigkeit der Banken nur durch staatliche Hilfen aufrechterhalten werden konnte. Während die Krise der Privatwirtschaft mit gigantischen Summen öffentlichen Geldes überwunden werden konnte, steht nun offensichtlich die Krise der Staaten vor der Tür. Während die USA vermutlich im Jahr 2012 die 100%-Grenze bei der Schuldenquote übersteigen wird, kann eine Reihe von kleineren Staaten wie Island, Irland, Ungarn und Griechenland die Insolvenz nur mit Hilfe von internationalen Stützungsmaßnahmen abwehren. Selbst in Spanien und Italien droht nächstens der Staatsbankrott.

Hans-Werner Sinn, Ordinarius an der LMU München und Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, gilt bereits seit Jahren als einer der profiliertesten Ökonomen Europas. Mit diesem Buch bestätigt Sinn wieder einmal seine scharfsinnige Kenntnis der globalen Finanzökonomie. Bei der vorliegenden dritten grundlegend aktualisierten Auflage wird der neueste Datenstand, wie die Höhe der tatsächlichen Schulden der Banken, sowie die jüngste Griechenlandkrise und das wachsende Budgetdefizit Deutschlands berücksichtigt. Seit vor einem Jahr Hans-Werner Sinns Deutung der Finanzkrise unter dem Titel "Kasino-Kapitalismus" (im Econ-Verlag) erschien, hat sich die Kernthese des Autors bestätigt, dass die Unfähigkeit der Staatengemeinschaft, ein einheitliches Regulierungssystem für Banken zu schaffen, die Hauptursache der Krise darstellt.

Das Buch bietet einen präzisen und umfassenden Überblick über die mikro- und makroökonomischen Ursachen der noch immer schwelenden Finanzkrise:
- Die USA lebten seit vielen Jahren über ihre Verhältnisse, d. h. eine seit Mitte der 80er Jahre stark fallende Sparquote ging einher mit einem hohen Konsum, der größtenteils mit Immobilienkrediten finanziert wurde. Die Verschuldung der privaten Haushalte und Unternehmen sowie nicht zuletzt die Staatsschulden bedingten hohe Kapitalimporte aus dem Ausland (oder analog einen Kapitalexport vieler Staaten, wie China, Deutschland und Japan in die USA).
- Das Platzen der amerikanischen Immobilienblase führte zur Überschuldung zahlreicher Hausbesitzer, was die ordnungsgemäße Bedienung der Hypotheken und der darauf basierenden Collateralized Debt Obligations (CDO) immer unwahrscheinlicher machte und insbesondere die Banken derjenigen Länder, welche in die scheinbar hochverzinslichen CDO-Papiere investiert hatten, hart getroffen hat.
- Der Hauspreisverfall erschütterte nicht nur die Finanz- sondern auch die Realwirtschaft, zumal in den Immobilien und Aktien traditionell der Löwenanteil der privaten amerikanischen Vermögen steckt. Ein negativer Multiplikatoreffekt entstand und weitete sich sukzessive auf die ganze Welt aus. "Die "amerikanische Immobilienkrise hat das Weltfinanzsystem ins Wanken gebracht und ein gewaltiges Zerstörungswerk ausgelöst, das in dieser Form keine geschichtlichen Parallelen aufweist." (S. 69)
- Die fallenden Marktwerte der Wertpapiere und Beteiligungen führten schließlich zu hohen Verlusten bei den Banken. Allein in 2008 sind mehr als 100 Banken weltweit und in 2009 weitere 140 FDIC-Banken durch Konkurse und Übernahmen verschwunden oder in letzter Minute verstaatlicht worden. Der Zusammenbruch von Lehmann Brothers führte beinahe zum Kollaps des gesamten Bankensystems der westlichen Welt. Berücksichtigt man, dass bis zum Februar 2010 erst 51% der weltweit zu erwartenden Abschreibungen auf Finanzprodukte realisiert waren, steht die Welt heute noch immer inmitten der heißen Phase ihrer Finanzkrise.
- Stark getroffen wurden auch die deutschen Landesbanken, welche - nicht zuletzt wegen der Nachwirkungsfrist der Gewährträgerhaftung - extrem riskante Geschäfte und Engagements auf dem amerikanischen Immobilienmarkt eingegangen sind. In der Summe aller Landesbanken sind bis Ende 2009 Eigenkapitalhilfen im Umfang von 18 Milliarden und Garantien im Umfang von 106 Milliarden Euro gewährt worden.
- Wall Street wurde zum Spielkasino, weil das im modernen Kapitalismus grundsätzlich sinnvolle Privileg der Haftungsbeschränkungen dermaßen überdehnt werden konnte, dass die amerikanischen Investmentbanken mit einem minimalen Eigenkapital arbeiteten, den Leverage-Effekt gemäß der sog. Bloos-Regel ("You cannot get blood out of a stone") nutzten und hohe Ausschüttungen der Buchgewinne, erleichtert durch das Prinzip des Fair Value, vornehmen konnten. Die Banker mutierten zu wahren Glücksrittern. Insoweit ist der Buchtitel (der an die Terminologie von Keynes, der von der Gefahr sprach, dass der Kapitalmarkt zum Nebenprodukt eines Kasinos werden könne) höchst zutreffend. Diese Verhaltensweisen lassen sich nach Sinn jedoch nicht mit einem irrationalen Verhalten und tierischen Instinkten (animal spirits) der Marktakteure erklären. "Wie so häufig erzeugt individuelle Rationalität kollektive Irrationalität, wenn Externalitäten eine Rolle spielen. Im vorliegenden Fall entsteht eine negative Externalität aus der Möglichkeit, die Verluste im Katastrophenfall den Gläubigern der Bank oder den Steuerzahlern zuzuschieben." (S. 126)
- Auch Main Street zockte; denn die Aussicht auf hohe Gewinne, gepaart mit Krediten ohne Durchgriffshaftung, verführten die privaten Haushalte nur allzu leicht über ihre Verhältnisse zu leben. "Kreative Gestaltungen" der Kreditverträge (Cash-Back-Kontrakte, Lockraten-Hypotheken) seitens der Banken sowie die wohlwollende staatliche Wohnungsbaupolitik (Clintons Community Reinvestment Act) verstärkten ein derartiges Spekulationsverhalten.
- Mit der Verbriefung von Kreditansprüchen aus Hypothekendarlehen entledigten sich die Kreditgeber der Risiken aus den Kreditansprüchen, erweiterten dadurch die ohnehin schon überdehnten Haftungsbeschränkungen und beschleunigten danach das Neugeschäft. Mit Hilfe der sog. Zweckgesellschaften, der Strukturierung und Absicherung von Wertpapieren mittels der CDO und der Credit Default Swaps (CDS) konnte ein kometenhafter Anstieg der Hypothekenfinanzierungen ermöglicht werden.
- Die staatlich anerkannten Rating-Agenturen, wie Moody`s, Standard & Poor`s oder Finch hätten Licht in das Dunkel dieser Zockerei bringen können. Anstelle dessen haben sie durch Fehlbewertungen kläglich versagt und beigetragen, dass die Vielzahl der kompliziert strukturierten "US-Schrottpapiere" weltweit Käufer fanden. Rating-Agenturen sind selbst private Großunternehmen, welche kein geringes Interesse am wachsenden Markt der Bewertung der Kreditierung, Refinanzierung und Strukturierung hatten. So haben sie nicht nur das Systemrisiko vernachlässigt und sich mittels der freundlichen und unkritischen Gutachten gegenüber Großkunden ihre Daueraufträge und fürstlichen Honorare gesichert ("Der Bank Lehrmann Brothers wurde das A+ noch bis zur letzten Woche vor ihrem Untergang zuerkannt." S. 181), sondern zusammen mit den Investmentbankern Endprodukte geschaffen und bewertet, die selbst für den Fachmann nicht mehr zu verstehen waren.
- Sinn macht jedoch in erster Linie nicht Banken wie Fannie Mae und Freddie Mac für diese Krise hauptverantwortlich. Es war vielmehr Politikversagen, d. h. der schier unbegrenzte naive Glaube an die Selbstregulierung der Märkte im Kontext mit dem Versagen staatlicher Aufsichts- und Regulierungsinstitutionen gegenüber Banken, Kreditversicherern und Rating-Agenturen, welche dieses Ausmaß der Finanzkrise erst ermöglichte. Die ungenügende Kapitalausstattung wird als Kernursache der Krise angesehen. Fatalerweise entstand mit der verwirrenden Komplexität der Risikogewichte von Basel II in jahrelanger Feinarbeit ein System, das den Hebel der Banken noch vergrößerte, weil "Risikogewichtung" oft bedeutete, Gefahren zu verharmlosen.
- Dieses Politikversagen umfasst letztlich auch die prozyklischen Wirkungen des verordneten Rechnungswesens (Fair-Value-Methode nach IFRS) und die prozyklischen Effekte, welche durch die dynamische Bewertung der Kreditnehmer im Rahmen des Basel-II-Systems entstanden. Hinzu kamen weitere Defizite bei Basel II im Hinblick auf Zweckgesellschaften und Hedgefonds, der "Laschheitswettbewerb" der Staaten und Regulierungsbehörden sowie nicht zuletzt ein staatliches Bankensystem mit Häusern ohne echtes Geschäftsmodell (Beispiel: deutsche Landesbanken), das dann zu solchen Spekulationen animierte.

Eine mögliche Schwäche des Buches liegt darin, dass die Finanzkrise weitgehend als mechanistische Folge des Staats- und Marktversagens erklärt wird. Die Frage weshalb es überhaupt zu einem solchen Klima kommen konnte, in dem die Notwendigkeit zu besseren Regulierungen entweder nicht gesehen oder die Änderungen zwar erkannt aber nicht durchgesetzt werden konnten, bleibt leider unbeantwortet.

Der renommierte Münchner Wirtschaftsforscher Sinn beschränkt sich jedoch nicht nur auf die sachkundige Analyse der Ursachen der Finanzkrise, sondern zeigt auch auf, weshalb die Gefahren noch (längst) nicht gebannt und welche Wege für die Zukunft zu beschreiten sind. Sinn benennt die Konstruktionsfehler der amerikanischen und deutschen Rettungsprogramme und bejaht die keynesianische Rezeptur der antizyklischen Konjunkturpakete. Allerdings kritisiert er die sog. Abwrackprämie, spricht sich vehement gegen gezielte Rettungsaktionen für einzelne Unternehmen der Realwirtschaft (Beispiel Opel) aus und verweist auf das deutsche Insolvenzrecht, das schließlich auf einen Neustart der betroffenen Unternehmen und auf eine nachhaltige Arbeitsplatzsicherung ausgerichtet ist. Für den neoliberalen Hochschullehrer und ifo-Präsidenten sind fundamentale Reformen des Banken- und Aufsichtssystems von zentraler Bedeutung. Das Ziel solcher Reformen muss sein, ein System zu schaffen, das nicht nur die Gewinne, sondern auch die Verluste privatisiert. Sinn erinnert an die Position der neoliberalen Ökonomen der deutschen Schule (Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke, Walter Eucken), "…..dass Märkte ihre segensreiche Wirkungen nur in einem starken Ordnungsrahmen entfalten können, der vom Staat definiert wird. Es gibt keine Selbstregulierung der Märkte, nur eine Selbststeuerung innerhalb des staatlich gesetzten Regulierungsrahmens." (S. 367).

Sinns Masterplan zur Sanierung des Finanzmarkts enthält insbesondere die folgenden Eckpunkte, welche überzeugend begründet werden:
- Zur Verhinderung der drohenden Kreditklemme sind eine staatliche Beteiligung und die Schaffung eines angemessenen Eigenkapitals vonnöten; notfalls solle der Staat nach angelsächsischem Weg die Banken dazu zwingen. Hingegen lehnt der Autor den momentan eingeschlagenen Weg in Richtung Bad-Bank und staatliche Bürgschaften ab.
- Langfristig sind im Rahmen eines neuen Basel-III-Systems wesentlich höhere Eigenkapitalquoten und höhere Risikogewichte zu verlangen als heute; schließlich ist die Liquiditätskrise nur das Symptom einer viel tiefer sitzenden Solvenzkrise, welche ihre Ursache in der chronischen Unterkapitalisierung des Bankensystems und den erlittenen Eigenkapitalverlusten hat.
- Schaffung geeigneter Anreizsysteme und Abbau der bisherigen Entlohnungsasymmetrie der Spitzenmanager - nicht durch den Staat, sondern durch eine strenge Eigenkapitalregulierung mit der Folge, dass Aktionäre über den Aufsichtsrat ihre Manager zu einer vorsichtigeren Geschäftspolitik, einschließlich eines am langfristigen Erfolg orientierten Bonussystems, verpflichten.
Umorientierung von der Mark-to-Market-Methode des IFRS-Systems zurück zum Niederstwertprinzip. Alternativ oder zusätzlich könnte man die Mindesteigenkapitalquoten prozyklisch verändern.
- Bändigung der Zweckgesellschaften und Hedgefonds mit dem Ziel einer höheren Eigenkapitalunterlegung.
- Leerverkäufe destabilisieren den Markt und sollten global begrenzt, wenn nicht gar verboten werden.
- Neues Geschäftsmodell für die Rating-Agenturen und Schaffung eines europäischen Gegengewichts.
- Errichtung von sog. Stoppschilder für regressfreie Ansprüche sowie Entschärfung der Geschäfte und Produkte im CDS-Bereich. "Auf dem amerikanischen Lebensversicherungsmarkt hat man die Friedhofsversicherungen schon im 19. Jahrhundert verboten, um die problematischen Verhaltenseffekte zu verhindern. Ohne den Nachweis eines legitimen versicherbaren Interesses kann man schon lange keine Versicherung mehr abschließen. Es kann nicht sein, dass der Finanzmarkt eine Ausnahme bleibt. Auch dort muss das Wildwest-Spiel beendet werden." (S. 399)

Fazit: "Die Finanzkrise ist keine Krise des Kapitalismus, sondern eine Krise des angelsächsischen Finanzsystems, das zum Kasino-Kapitalismus mutierte und leider auch in Europa immer mehr Nachahmer gefunden hat. Sie ist das Ergebnis der Unfähigkeit der internationalen Staatengemeinschaft, ein einheitliches Regulierungssystem für Banken und andere Finanzinstitute zu schaffen, das den Eigennutz der Akteure so kanalisiert, dass er sich segensreich und produktiv entfalten kann, wie man es von einer Marktwirtschaft erwartet." (S. 14)

Das Buch ist spannend geschrieben und fasziniert durch die durchgehend stringente Analyse, welche allen, die sich mit den Ursachen und Konsequenzen der Finanzkrise befassen wollen, wertvolle Einsichten in die insgesamt recht komplexe internationale Finanz- und Wirtschaftswelt bietet. Die fesselnde Lektüre kann auch Nicht-Ökonomen wärmstens empfohlen werden.

Kasino-Kapitalismus
Kasino-Kapitalismus
Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist
472 Seiten, broschiert
Ullstein 2010
EAN 978-3548373034

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