Franz Kafka und Berlin
"Wenn es möglich wäre, nach Berlin zu gehen, selbständig zu werden, von Tag zu Tag zu leben, auch zu hungern, aber seine ganze Kraft ausströmen zu lassen statt hier zu sparen oder besser sich abzuwenden in das Nichts! Wenn Felice es wollte, mir beistehn würde!" Mit diesen wenigen Zeilen aus einem Brief Kafkas aus dem Jahre 1914 in das ganze Dilemma seiner letzten Lebensjahre umrissen. Ohne die Unterstützung seiner Geliebten Felice Bauer wagt er es nicht, sich von seiner Familie zu lösen, obwohl er es noch so sehr wünscht, er bedarf der Hilfe, denn allein ist es ihm nicht möglich, auch wenn er sich selbst davon zu überzeugen versucht, dass er auch ohne Felice gegangen wäre, Berlins wegen. "Ich riskiere nichts, denn mein Leben in Prag führt zu nichts Gutem."
Der Erste Weltkrieg sollte das nur mühsam verwirklichbare Vorhaben noch einmal ein paar weitere Jahre hinauszögern, doch als das Kriegsende 1917 abzusehen war, rückte für Kafka auch die Verwirklichung seines Traums näher: Heiraten und nach Berlin ziehen. Doch seine Krankheit (infektiöse Lungentuberkulose) sollte ihn diesen Plan erneut verwerfen lassen und den Gedanken fassen lassen, nicht für eine Familie bestimmt zu sein. Felice und er trennen sich und aus Parvenüpolis (Berlin) wird wieder nichts.
Franz Kafka reiste mehrmals nach Berlin, bevor er sich für einen Umzug dorthin entschied. Er besuchte das Berlin der 10er Jahre, in denen es 30 Theater und viele andere Vergnügungen gab. Außerdem lockten den Vegetarier Kafka 150 vegetarische Verpflegungsreinrichtungen, die es bereits um die Jahrhundertwende dort gab. Hans-Gerd Koch beschreibt mit lässiger Eleganz das kulturelle Angebot, das die Stadt Berlin Anfang des neuen Jahrhunderts zu bieten hatte und verortet Kafka bei den Modernisten, denen ein neues Theater vorschwebte (Max Reinhartdt). Berlin hatte 1871 etwa 800.000 Einwohner, aber Ende der 70er überschritt es bereits die Millionengrenze. Nach dem Krieg sollten viele Vororte eingemeindet werden und Berlin wurde mit 3,8 Millionen Einwohnern neben London und New York zur drittgrößten Stadt. Einzig Paris fand in den Augen der Prager intellektuellen Kreise Beachtung, auf Wien wurde nur mit verächtlichem Spott hinuntergeblickt.
Hans-Gerd Koch benutzt nicht nur Tageaufzeichnungen Kafkas und Zitate von Kafka selbst, sondern auch von anderen Intellektuellen, die das damalige Berlin beschrieben. Außerdem illustriert er seine lesenswerte Kafkas Berlinographie mit vielen Fotos des alten Berlins, aber auch mit Felice Bauer oder Dora Diamant. Letztere sollte dann noch eine Rolle bei der Verwirklichung von oben angesprochenem Traum Kafkas spielen. Kafka selbst beschreibt er als "für seine Unpünktlichkeit im Büro berüchtigt", in Liebesdingen jedoch äußerst zuverlässig. In allem was mit Berlin verbunden war, legte er größten Wert auf Pünktlichkeit und Verlässlichkeit, er habe sich sogar Zeitpläne für seine Besuche in Berlin geschrieben, die von seiner Geliebten Felice jedoch meist durcheinander gebracht worden waren. Kafkas Leben bestand aus Warten, zumeist stieg er am Anhalter Bahnhof ("einer der Sehnsuchtsorte des Reisenden aus Prag") in eine in der Nähe gelegenes Hotel ab und wartet. Wie Hans-Gerd Koch betont haben diese Erfahrungen aus dem privaten Leben auch ihre Repräsentanz in Kafkas Werk gefunden. Als Franz Kafka in seinen beiden letzten Lebensjahren endlich umzieht und Berliner wird, "tut ihm Berlin gar nicht gut". Der ohnehin abgemagerte (von 54 auf 49kg bei 1,8m Körpergröße) kehrt mit fortgeschrittener Lungentuberkulose erst nach Prag, dann in ein Sanatorium in Niederösterreich zurück und stirbt dort einen Monat vor seinem 41. Geburtstag.
Hans-Gerd Koch beschreibt die letzten Lebensjahre Franz Kafkas und stellt sie stets in Bezug zu seinem Traum, Berlin. Die Befreiung von seiner Familie und Prag, sollte ihm zwar gelingen, doch zahlte er dafür einen zu hohen Preis. Hatte er zu lange gezögert? Zwischen dem Fassen des ersten Gedankens, nach Berlin zu ziehen, und seiner Verwirklichung lagen mehr als zehn Jahre. Hans-Gerd Koch lässt diese Frage offen, dafür beschreibt er in einer Art Panoptikum das Leben in Berlin zu Anfang des 20. Jahrhunderts, widmet sich etwa auch den Beschreibungen des Anhalter Bahnhofs, von dem heute nur mehr das Portal steht, der aber einst so groß war wie der jetzige Hauptbahnhof. Die kleine Lektüre ist so aufregend und spannend zu lesen wie ein Roman. Oder eine Tragödie, die das Leben schrieb.
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