Zusammenhalt ohne Reue
In nur gerade fünfzig Jahren machte Island die Entwicklung durch, die in anderen westlichen Ländern dreihundert Jahre dauerte, erfährt man aus diesem gut geschriebenen Buch. Und, dass, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen, die Isländer im Jahr 2005 das fünftreichste Land der Welt waren ... doch dann brach der internationale Finanzkapitalismus über das Land herein und in der Folge wurde Island zum ersten westlichen Land, dessen Finanzsystem komplett zusammenbrach.
"Man sieht die Raffgier und die Hybris. Man sieht, wie die Herren der Banken monatelang die Köpfe in den Sand steckten, bis das Ende unausweichlich geworden war. Und das scheint auch bei den öffentlichen Kontrollinstanzen, der Zentralbank und der staatlichen Finanzaufsicht und bei den verantwortlichen Politikern der Fall gewesen zu sein: man wusste von der Gefahr, man ahnte das Ende, aber man unternahm nichts!", schreibt der Autor. Der Leser wundert sich nur, dass der Autor sich (wieso sonst das Ausrufezeichen?) darüber wundert, denn Hoffnung und Vertrauen auf sogenannte Verantwortliche zu setzen, na ja, wer das tut, trägt selber Schuld.
Spannend an diesem informativen Text ist unter anderem, dass man aufgezeigt kriegt, wie wenig man von diesem Island weiss. Sicher, dass es sich um eine Vulkaninsel handelt, davon hatte man gehört, doch nicht jeder mag gewusst haben, dass die Amerikaner bis 2006 dort Militärbasen unterhielten oder dass die sozialdemokratische Aussenministerin Ingibjörg Gisladottir am 24. November 2008 einer Versammlung von protestierenden Bürgerbewegungen zurief: 'Ihr seid nicht das Volk'.
Dem Kapitel mit dem Titel "Die Kochtopfrevolution" - die Leute versammelten sich vor dem Parlament mit Töpfen und Pfannen und klopften mit Löffeln und Gabeln darauf herum, und zwar während Stunden - ist ein Text von Hallór Laxness vorangestellt, worin er unter anderem schreibt: "Keinem Volk ist der Gedanke an eine Revolution so fremd". Nun ja, auch Literaturnobelpreisträger irren. Und schön, dass es eine friedliche Revolution war.
Der grösste Teil des Buches handelt davon, was diese Krise mit den Isländern gemacht hat. Menschen mit ganz unterschiedlichen Berufen und Schicksalen kommen hier zu Wort: "Das Gerede von all diesem Profit auf den Finanzmärkten war doch irgendwie unwirklich, das konnte ja nicht mit rechten Dingen zugehen. Jetzt ist die Welt wieder wahr, und ich hoffe nur, dass wir auf diesen Ruinen eine bessere Gesellschaft bauen. Natürlich wird der ganze Quatsch irgendwann wiederkommen, in irgendeiner Form, aber trotzdem glaube ich an ein neues Island." (Audur Alfifa Ketilsdottir, Journalistin). Oder: "Die Vermarktung aller Dinge ist aus meiner Sicht ein Angriff auf die menschliche Gesellschaft. Arbeit sollte etwas Kreatives sein, nicht eine digitalisierte Produktion von Geld. Deswegen bin ich Krankenpfleger und Anarchist, weil es mir um die menschliche Gesellschaft geht" (Sigurdur Hardarson).
"Warum sollen wir zusammenhalten" fragt Maria Kristjansdottir, die 54jährige Leiterin eines Kindergartens. In einem Lesenbrief an 'Morgunbladid' schrieb sie unter anderem: "Zusammenhalt. wenn das Schicksal unerwartet, ohne menschliches Zutun, zuschlägt, ist etwas ganz Natürliches. Aber was in der isländischen Wirtschaft im Herbst 2008 geschah, der Kollaps des Bankenwesens, war weder eine Naturkatastrophe noch eine Epidemie. Ich finde deshalb, dass die Politiker mich missbrauchen, mein Gewissen, meinen Optimismus, meine Fähigkeit zu verzeihen, wenn sie mich jetzt um Zusammenhalt bitten. So weit sind wir noch nicht ... Bevor nicht irgendjemand sich verantwortlich erklärt hat und mich um Entschuldigung bittet, bin ich nicht bereit, solidarisch zu sein. Ich finde es ungerecht, wenn die Politiker an mein Gewissen appellieren und sagen, wir sollten jetzt nicht zurückblicken und nach Sündenböcken suchen, sondern nur nach vorne schauen und uns zusammennehmen. So machen wir es nicht! An was sollen wir uns denn halten? Sollen wir mit denselben Politikern, denselben Bankdirektoren, weitermachen? Ich bin immer bereit zu verzeihen, aber nicht, wenn niemand bereut ..."
Nein, wir sind nicht alle Isländer, doch wenn wir als Gesellschaft nicht so weiter machen wollen wie bisher, dann sollten wir uns die Isländerin Maria Kristjansdottir zum Vorbild nehmen.
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