Das Erkenntnisproblem der Bevölkerung ist das Handlungsproblem der Politik
Deutschland durchlebt gegenwärtig eine Rezession, die einhergeht mit einer Finanzkrise, wie sie die Welt seit der 1929 beginnenden Weltwirtschaftskrise nicht mehr gesehen hat. Seitdem im Sommer 2007 die IKB-Bank in Schieflage geriet, wurden die Auswirkungen der weltweiten Wirtschaftskrise auch in Deutschland zunehmend spürbar. Der Rückgang des preisbereinigten Bruttoinlandsprodukts war 2009 mit 5% stark wie noch nie in der Nachkriegszeit. Krisenbedingte Steuerausfälle sowie milliardenschwere Ausgabenprogramme zur Kriseneindämmung ließen die Nettokreditaufnahme des Bundes für 2010 auf ca. 86 Milliarden, ohne die zusätzlichen Mittel zur Bankenstützung, anwachsen - und damit auf den höchsten Stand seit Bestehen der Bundesrepublik.
Zurzeit ist zwar noch nicht absehbar, wie lange und wie gravierend diese Krise ausfallen und welche strukturellen Veränderungen sie weltweit und in Deutschland nach sich ziehen wird. Zweierlei aber tritt schon heute deutlich zutage. Die Regulierung des Finanzsektors ist nicht hinreichend und die Lösung struktureller Fragen, die in der Vergangenheit versäumt wurden, wird immer dringlicher. Auch wenn sich langsam die Einsicht durchsetzt, dass Reformen unumgänglich sind, so besteht doch große Unsicherheit darüber, welche Schritte konkret getroffen werden sollen, um die wirtschaftlichen Probleme in Deutschland nicht nur symptomatisch zu therapieren, sondern nachhaltig zu lösen. Leidvolle Erfahrungen haben gezeigt, dass viele politische Akteure interessengeleitet sind und eher diejenigen Politiken ergreifen, mit denen sie ihre Zustimmung maximieren können - man denke nur an das vorzügliche Beispiel der ökonomisch und ökologisch unsinnigen Abwrackprämie. Vor diesem Hintergrund ist es unrealistisch, von den Parteien systematisch praktizierte Weitsicht und Mut zu erwarten. Wenn das politische System Reformschritte nicht belohnt, werden Politiker diese auch nur in Ausnahmefällen unternehmen. Folglich ist das Erkenntnisproblem der Bevölkerung das Handlungsproblem der Politik.
Hier setzt die von Günther G. Schulze (Professor für Wirtschaftspolitik und Direktor der Abteilung für Internationale Wirtschaftspolitik, Universität Freiburg) herausgegebene Publikation an. Es geht vor allem darum, dass in der Bevölkerung die Einsicht in die Notwendigkeit von Reformen Bahn bricht und die Wähler diese Reformen fordern und belohnen. Erst dann werden die politischen Parteien diese auch in die Tat umsetzen. Zu diesem Zweck werden die zehn wichtigsten Reformfelder aus ökonomischer Sicht identifiziert und konkrete Wege aufgezeigt, wie die strukturellen Probleme Deutschlands gelöst werden können. Es ist Schulze hervorragend gelungen, für jedes der zehn Problemfelder einen der führenden deutschsprachigen Ökonomie-Experten zu gewinnen und darauf zu achten, dass die Beiträge trotz der erforderlichen wissenschaftlichen Fundierung auch für Leser ohne wirtschaftswissenschaftliches Studium gut nachzuvollziehen sind.
Nach einem einführenden Beitrag über die "Wirtschaftspolitik in der Krise" von Günther G. Schulze befasst sich Otmar Issing, der ehemalige Chefvolkswirt der Deutschen Bundesbank und später der Europäischen Zentralbank, mit den vielfältigen Ursachen der Krise und macht weit reichende Vorschläge zur Reform des Finanzsektors. Er fordert eine erheblich größere Transparenz durch Schaffung einer "Risikolandkarte", von globalen Kredit- und Wertpapierregistern, eine verbesserte Regulierung der Hedge-Fonds und veränderte Arbeitsweisen und Anreizstrukturen für Ratingagenturen. Darüber hinaus setzt er sich kritisch mit der Prozyklizität der Geldpolitik auseinander und fordert die Notenbanken auf, in Zukunft eine symmetrische Politik zu betreiben. Zuletzt unterbreitet er Vorschläge für eine stärkere Rolle und Reform internationaler Institutionen und Foren. Diese Forderungen waren auch der zentrale Kern der im Auftrag der deutschen Bundesregierung erarbeiteten Vorschläge zur Vorbereitung des G-20 Treffens im April 2009 ("New Financial Order Recommendations by the Issing Committee").
Die weiteren Beiträge befassen sich mit den strukturellen Problemen, welche in der heutigen Krise mehr denn je klar zutage treten. Nachstehend werden die wichtigsten Handlungsfelder aus ökonomischer Sicht auszugsweise vorgestellt:
Arbeitsökonomische Analyse ausgewählter Aspekte der Hartz-Reformen (Bernd Fitzenberger, Uni Freiburg): Die Evaluierung der Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik zeigt ein uneinheitliches Bild. Während z. B. die Reform der Existenzgründungsförderung, die Förderung der beruflichen Weiterbildung und die Einführung von Vermittlungsgutscheinen sowie die Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln positiv evaluiert werden, haben sich die Personalserviceagenturen und die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen als untaugliche Instrumente erwiesen.
Beschäftigungsförderung und Einkommenssicherung im Niedriglohnbereich - Wege und Irrwege (Viktor Steiner, FU Berlin): Die Analyse der Möglichkeiten im Niedriglohnbereich Beschäftigungsförderung und Einkommenssicherung miteinander in Einklang zu bringen, führt zu dem Schluss, dass die Beschäftigungswirkungen der "Mini-Jobs" und der verschiedenen "Kombilohn-Modelle", die einkommensabhängige Lohnsubventionen vorsehen, eher gering sind.
Wege zu mehr Wettbewerb im Gesundheitssystem (Friedrich Breyer, Uni Konstanz): In einem Plädoyer für eine umfassende Gesundheitsreform wird aufgezeigt, wie ein wirksamer Wettbewerb innerhalb und zwischen der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung ermöglicht werden kann, so dass Wahlfreiheit, Effizienz und Innovationsfreudigkeit erreicht werden kann.
Wege aus der schulpolitischen Krise: Wettbewerb, Autonomie und externe Prüfungen (Ludger Wößmann, LMU München): Erfahrungen mit Schülerleistungstests machen deutlich, dass klar zu identifizierende institutionelle Rahmenbedingungen für den Erfolg eines Bildungssystems entscheiden sind - hierzu zählen u. a. der Wettbewerb zwischen den Schulen, ihre Autonomie und externe zentrale Leistungsüberprüfungen.
Deutsche Umwelt- und Klimapolitik: symbolisch, teuer und ineffektiv? (Till Requate, Uni zu Köln): Die Notwendigkeit zur weltweiten Reduktion der CO2 - Emission gilt heute weitgehend als unumstritten. Dennoch kann aufgezeigt werden, dass bei der Implementierung des Emissionshandelssystems gravierende Fehler gemacht wurden. Daneben werden u. a. die jüngsten Beschlüsse der EU und die deutschen Programme zur Reduktion der CO2 - Emissionen auf den Prüfstand gestellt.
Staatsverschuldung in Deutschland: Wende oder Anstieg ohne Ende? (Clemens Fuest und Michael Thöne, Uni zu Köln): Die Analyse der Verschuldungslage der öffentlichen Haushalte zeigt, dass die erheblichen Risiken bei den Sozialausgaben liegen, besonders angesichts der demographischen Entwicklung. Die Rentenreform hat zwar die Tragfähigkeitsrisiken vermindert; entsprechende Reformen im Gesundheitswesen, auf dem Arbeitsmarkt und bei der Pflegeversicherung stehen jedoch noch aus. Des Weiteren werden die Möglichkeiten der Subventionskürzung und der Effizienzsteigerungen bei den öffentlichen Ausgaben diskutiert und die (zwischenzeitlich erfolgte) Einführung institutioneller Schuldenbremsen analysiert.
Zur Reform der deutschen Finanzverfassung (Lars P. Feld und Thushyanthan Baskaran, Uni Heidelberg): Im Mittelpunkt steht die Analyse der Verschuldungsproblematik aus der Perspektive des Föderalstaates. Trotz der anzuerkennenden neuen Schuldenschranken der Föderalismusreform II bleibt als wichtiger Kritikpunkt die fehlende Stärkung der Steuerautonomie der deutschen Länder. Mehr Autonomie heißt mehr Verantwortung. Ohne eine solche Autonomie herrscht weiterhin das System der Verantwortungslosigkeit in der deutschen Finanzverfassung.
Steuerpolitischer Handlungsbedarf: Nachjustierung der Unternehmensteuerreform (Markus Morawitz und Wolfgang Wiegard, Uni Regensburg): Obwohl die Unternehmensteuerreform vor allem durch die Senkung der Steuerbelastung insgesamt eine Verbesserung darstellt, wird ein deutlicher Nachbesserungsbedarf konstatiert. Unterschiedliche Einkunftsarten werden mit verschiedenen Tarifen belegt, was vielfältige Gestaltungsspielräume für Bezieher von Gewinneinkünften eröffnet. Das Postulat einer finanzierungs- und rechtsformneutralen Besteuerung wird in gravierendem Maß verletzt, was erhebliche Fehlallokationen zur Folge hat.
Gesamtwirtschaftliche Folgen des demographischen Wandels (Axel Börsch-Supan, Uni Mannheim): Der demographische Wandel muss kein unabänderliches und bedrückendes Schicksal für unser Land bedeuten, wenn die Politik entsprechende Maßnahmen einleitet, z. B. die Einführung einer kapitalgedeckten Säule der Rentenfinanzierung - und einhergehend damit eine kapitalintensivere Produktionsstruktur - sowie die Internationalisierung der Kapitalmärkte.
In einem abschließenden Beitrag zeigt Peter Bernholz (Uni Basel) aus der Sicht der Neuen Politischen Ökonomie auf, warum es keineswegs erstaunlich ist, dass Reformen, trotz all der vorliegenden Gutachten und Expertisen von etlichen sachverständigen Gremien, nicht (rechtzeitig) angegangen werden. Er beschreibt den Einfluss von Interessengruppen und die Uninformiertheit der Wähler, welche dazu führen, dass Politiker, die Wahlen gewinnen wollen, vor weit reichenden Reformen zurückschrecken. Er macht aber auch deutlich, dass gerade in Krisenzeiten wie der jetzigen Chancen bestehen, die direkte Demokratie mit Volksabstimmungen (mit Referenden und Initiativen) sowie einen wirklichen Föderalismus mit finanziell weitgehend selbstständigen und unabhängigen Ländern und Gemeinden einzuführen, um dadurch Reformen eher und besser anzugehen.
Was ist Wahrheit?
Eine Streitschrift von Peter Strohschneider, in der die Frage von Wahrheit, Wissenschaft und Politik schneidig und pointiert aufgeworfen wird.
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James Baldwins Werk, das die ungebrochene Macht des Rassismus und den Kampf für Gerechtigkeit thematisiert, ist aktueller denn je. Ein eindringliches Plädoyer für Versöhnung.
Nach der Flut das FeuerEin strukturierter Blick auf die internationalen Wirtschaftsbeziehungen
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