"...son Paschabild mit ihm in der Mitte..."
Mehr als drei Jahrzehnte werden in "Die Box" ausgebreitet. Mehr als drei Jahrzehnte im Leben des Günter Grass. Um genau zu sein vom Ende der 1950er bis zur Veröffentlichung des äußerst kontrovers diskutierten Wiedervereinigungs-Romans "Ein weites Feld" im Jahre 1995. Doch es ist nicht der Nobelpreisträger selbst, der hier spricht, bzw. den Grass sprechen lässt. Seine Kinder treffen in 9 Episoden in unterschiedlichen Konstellationen aufeinander und erzählen die Geschichte des berühmten Vaters und - damit untrennbar verbunden - die einer weit verzweigten Patchworkfamilie. Dabei kreisen ihre Dialoge immer wieder um die Suche des Vaters nach der starken Frau an seiner Seite, seine Unfähigkeit, die Arbeit der Familie unterzuordnen und die diversen Probleme, welche mit seiner Tätigkeit als Autor verbunden sind. Tragendes Element und roter Faden dabei: die Box, eine Uralt-Kamera der Firma Agfa. Mit ihr hat es Besonderes auf sich, seit sie vom Krieg "übriggeblieben" ist. "Meine Box macht Bilder, die gibt’s nicht. Und Sachen sieht die, die vorher nicht da waren. Oder zeigt Dinge, die möchten euch nicht im Traum einfallen." Und damit behält die "olle Marie" Recht. Hinter ihrer Figur verbirgt sich die Fotografin Maria Rama, die treue Weggefährtin und Freundin Günter Grass’ und zugleich mit Hilfe ihrer "Wünschdirwasbox" Quelle seiner Inspiration. Diese Kamera verschafft dem Schriftsteller die Möglichkeit, in der Zeit herumzureisen. Ihre Bilder zeigen Räume und Orte fern der Gegenwart. So erfährt er beispielsweise, dass in seinem Berliner Atelier einst Kaiser Wilhelm II. zu Besuch war, weil dieser den damaligen Mieter, den Marinemaler Hans Bohrdt förderte. Aber nicht nur dem Vater ist sie auf der Suche nach Motiven für seine Bücher behilflich, sondern auch den Kindern dabei, ihre Wünsche und Hoffnungen sichtbar zu machen. Manchmal aber auch bloß, um herauszufinden, wo sich Laras Hund mal wieder herumtreibt, der so gerne U-Bahn fährt.
Es ist dieses märchenhafte Element der Box, welches dem Roman eine besondere Note verleiht, ihn abgrenzt von einer konventionellen Autobiographie. Und in Kombination mit der ebenso ungewöhnlichen Erzählperspektive durch die versammelten Kinder, scheint Grass zunächst ein ansprechender Kunstgriff geglückt. Jedoch verblasst dieser erste Eindruck recht schnell. Ein Gewöhnungsprozess gegenüber der Kamera und durch sie vollbrachte Wunder setzt beim Leser ein, der viel zu oft und viel zu vorhersehbar mit diesem Phänomen konfrontiert wird.
Der Effekt der Erzählperspektive lässt sich zwar nicht leugnen: Der Leser ertappt sich immer wieder dabei, Grass abzukaufen, mit "Die Box" nur eine Art Gesprächsprotokoll der Kinder veröffentlicht zu haben, dass diese Gespräche tatsächlich so stattgefunden haben, ihre Geschichten, wie sie sie erzählen, der Realität entsprechen. Jedoch nervt auf Dauer das abgehackte, teils wirre Gequassel der Kinder, die sich ständig gegenseitig unterbrechen. Grass bemüht sich, durch vermeintliche Umgangssprache eine möglichst authentische Gesprächsatmosphäre zu kreieren, was jedoch nur unzureichend gelingt. Zu aufgesetzt wirkt der Jargon, den er den Kindern in den Mund legt. Der gehässige Leser würde an dieser Stelle darauf hinweisen, dass sich Grass doch bitte auf vertrautem Terrain bewegen möge, sprich gar nicht erst versuchen sollte, die ihm im Grunde nicht vertraute Sprache einer anderen Generation nachzuahmen.
Das Lesen wird zusätzlich durch die geringe Individualisierung der Charaktere erschwert. Man erfährt zwar das Nötigste, ohne jedoch das Gefühl zu haben, wirklich in die jeweilige Person hineingeschlüpft zu sein. Dies liegt natürlich in der Masse an Personen, aber in viel größerem Maße in der Schreibweise begründet. Durch das ständige Durcheinander weiß der Leser teilweise gar nicht, wer gerade spricht. Und falls doch, bleibt davon aufgrund der schnellen Sprünge viel zu wenig haften. Eigentlich schade, denn die Verschiedenartigkeit der Kinder, sei es in Sachen Beruf, Lebenslauf oder Beziehungen gibt eigentlich viel "Identifikationspotential" her und wäre wert, genauer beleuchtet zu werden.
So schleicht sich doch nach der Hälfte des Buchs ziemliche Langeweile ein.
Obwohl die Defizite Grass’ als Familienmensch deutlich zu Tage treten, scheinen es unterm Strich doch "nur" die nicht vorhandenen Fähigkeiten als "Spielvater" zu sein, welche die Kinder bemängeln, oder genauer: Von denen Grass glaubt, dass sie seine Kinder bemängeln würden. Trotz regelmäßigem Gemecker könnte sie nichts dazu bewegen, nicht die Nähe des Familienpatriarchen zu suchen. Seine fast ständige Abwesenheit, sein Dasein als eine Art Familienphantom, das so nach Lust und Laune mal auftaucht, was Kluges von sich gibt und wieder tagelang in seinem Zimmer oder sonst wo verschwindet, wird ihm nach dem Motto "So ist er eben, der Vatti" verziehen. Deutlicher: Grass verzeiht es sich selber! Am Ende hält er doch das Bild in Händen, von dem schon ganz zu Anfang des Buchs behauptet wird, dass er es sich so sehr wünschen würde, "son Paschabild mit ihm in der Mitte" . Trotz einzelner Zweifel zwischen den Zeilen kann man davon ausgehen, dass er auf diesem Foto doch recht zufrieden dreinblickt. Und so entpuppt sich das Gerichthalten der Kinder letztlich als reines Schaulaufen.
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