Mouhanad Khorchide: Gott glaubt an den Menschen

Islam, Humanismus und Freiheit

Religionen und religiöse Menschen werden – auch von Wissenschaftlern heute – noch immer als Ursachen sowie Verursacher von Gewalt angesehen. Mouhanad Khorchide erinnert an maßlose Vorwürfe von atheistischen Religionskritikern wie Richard Dawkins oder Michael Schmidt-Salomon, provokativ in dieser Hinsicht äußerte sich auch mehrfach Jan Assmann. Der bekannte Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide indessen äußert sich abweichend zu solchen Meinungen: "Religionen können zwar Konflikte verschärfen oder auch entschärfen, sind aber selbst nicht ihre eigentliche Ursache." Er markiert als Problem die Exklusivitätsansprüche, die sowohl mit Religionen, aber auch mit Philosophien und Ideologien verbunden sind. Khorchide möchte über den "verantwortlich handelnden Menschen" nachdenken und für ein neues Verständnis des Islams werben. Der Islam trage das "Potenzial zur Entfaltung eines neuen Humanismus in sich" – ein herausfordernder Gedanke.

Khorchide spricht von einer notwendigen "Aktualisierung des Islamverständnisses" und kritisiert grundsätzlich jede Form von "bevormundenden Herrschaftsstrukturen, seien sie religiös oder nichtreligiös": "Bevormundung geschieht längst nicht mehr nur im Namen von Religionen und extremen Ideologien, sondern auch im Namen des Humanismus selbst, ja im Namen der Moderne selbst." Der Islamwissenschaftler benennt dies zu Recht, lässt aber aus, dass neben diesen Herrschaftsordnungen und Weltanschauungen auch ökonomische Gegebenheiten machtvoll agieren, ob verborgen oder sichtbar. Der Kapitalismus etwa fordert von Menschen Mobilität, Flexibilität und Leistungsbereitschaft oder Motivation und wirbt mit trügerischen Zielen wie Selbstverwirklichung und Karriere, oft mit gravierenden Folgen für die Menschen, die sich säkular gläubig daran anpassen oder meinen, anpassen zu müssen. Die Instrumentalisierung des Menschen findet also auf vielfache Weise statt. Khorchide wirbt nicht für einen "Humanismus, der nur für Muslime gilt, sondern um eine humanistische Haltung als Angebot für alle, sich sowohl nach innen als auch nach außen zu öffnen und sich auf die Reise zu begeben, das »Andere«, das außerhalb des Gewohnten ist, zu entdecken". Gott habe sich "auf den Menschen eingelassen und sich ihm geöffnet, indem er sich ihm offenbart hat". Diese Haltung des "Sich-Öffnens" nimmt Khorchide als vorbildhaft an. Die "Gott-Mensch-Beziehung" begreift er als partnerschaftlich: "Weder will Gott den Menschen bevormunden, noch soll sich der Mensch für göttlich halten. Gott will den Menschen, er glaubt an ihn, er will seine Glückseligkeit, er hat sich auf ihn eingelassen und sich für ihn entschieden, deswegen ist Gott ein Humanist." An einem Begriff wie Glückseligkeit, der auch in philosophischen Diskussionen aufscheint und in der Lebenspraxis oft als wünschenswert genannt wird, tut sich für religiöse Menschen oft die Frage nach der Vereinbarkeit von Glück und den Übeln in der Welt auf. Wenn Gott das Glück des Menschen möchte, warum lässt er so viele Formen des Leides zu? Gesetzt, dass Leiden und Glück nicht gegensätzlich zu verstehen sind: Warum hadern Menschen doch mit Krankheit und Not? Warum schenkt Gott ihnen dann nicht die Kraft, das Leid anzunehmen und zu tragen?

Der Mensch sei der "Lenker und Verfasser seiner eigenen Geschichte". Bedingt stimmt das auch, doch es gibt Bedingungen – die eigene Physis, die ökonomische Struktur der Gesellschaft und anderes –, auf die ein Mensch allein keinen Einfluss zu haben und denen er ohnmächtig ausgeliefert zu sein scheint. Kann ein Mensch etwa die ökonomischen Bedingungen maßgeblich verändern, nur weil er das tun will? 

Das Individuum, so Khorchide, sei für "seine Handlungen und Verfehlungen verantwortlich": "Niemand soll für die Verfehlungen anderer sterben. Auch soll niemand wegen der Verfehlungen anderer sanktioniert werden." Abgelehnt werde die Vorstellung der Erbsünde: "Der Islam geht davon aus, dass der Mensch keineswegs vorbelastet zur Welt kommt. Jedoch besitzt der Mensch neben seiner Neigung zum Guten auch eine Neigung zum Bösen, was ihn eigentlich erst in die Lage versetzt, sich in Freiheit für seinen Weg zu entscheiden. Der Koran beschreibt daher den Menschen in seiner Ambivalenz, er ist weder vollkommen gut noch vollkommen schlecht." Darin zeigte sich also die Freiheit des Menschen, und "jede Form des Zulassens von Bevormundung ist eine Beteiligung am Raub der eigenen Freiheit, die dem Menschen von Gott gewollt und geschenkt ist, und steht daher im klaren Widerspruch zum islamischen Glauben selbst".  Khorchide führt weiterhin aus: "Gott hat die Welt so konzipiert, dass er nicht unmittelbar in sie eingreift und Dinge in ihr direkt verändert. Primär fällt diese Rolle dem Menschen zu, der dazu eingeladen ist, sich in Freiheit zur Kooperation mit Gott zur Verfügung zu stellen. Dadurch sollen die Freiheit des Menschen und somit die Verantwortung für sein Handeln souverän bleiben." Gottes Ziele seien "Liebe und Barmherzigkeit", aber der Mensch müsse daran mitwirken, ja – es liege an seiner "alleinigen Entscheidung", ob er dies tue oder nicht.

Eine "Mittlerinstanz" zwischen Gott und Mensch werde abgelehnt: "Alles, was den freien Blick des Menschen bewusst oder unbewusst einschränkt und ihn bevormundet, schränkt seine Freiheit ein. Der Ruf des Korans zum Glauben ist ein Ruf, sich zur Freiheit zu bekennen. Der Monotheismus ist im Grunde ein Bekenntnis zur Befreiung von jeglicher geistigen, sozialen oder politischen Bevormundung." Die Aufgabe der Religion sei es nicht, "herrschende gesellschaftliche Verhältnisse zu legitimieren", sondern die "ständige Suche nach Antworten" wachzuhalten, "wie sich Religionen samt ihrem spirituellen Gehalt und ihren ethischen Prinzipien immer wieder neu entfalten können". So spricht Khorchide von einem "ständigen Entwicklungsprozess" und weiß zugleich, dass viele gläubige Muslime damit ein Problem haben: "Es gibt Muslime, die meinen, den Islam zu repräsentieren. Der Islam ist letztendlich das, was die Muslime daraus machen." Was der Islamwissenschaftler hier über Muslime schreibt, könnte zugleich auch für Christen denken, die ihre Sicht mit der einzig wahren Sichtweise identifizieren: "Vertreter exklusivistischer Positionen wollen – bewusst oder unbewusst – sich selbst die Macht verleihen, über Menschen zu richten, sich somit selbst profilieren, um sich über andere zu erheben." 

Der Koran sei keine "Bedienungsanleitung" für ein gelingendes Leben, appelliere aber an den Menschen, "seine Vernunft einzusetzen, um seinen Weg zu Gott immer wieder kritisch zu reflektieren und je nach Lebenskontext neu zu beschreiben": "Der Koran gebietet diese Haltung, gibt aber keine konkreten Antworten. Die Antworten muss der Mensch immer neu finden und immer wieder kritisch hinterfragen." Der Mensch könne "in dem Glauben, die Ordnung, in der er sich befindet, sei eine fertige und statische", erstarren und sich damit gegen jede Reform und gegen jede Dynamik der Veränderung abschotten. Diese Gefahr besteht gewiss in allen Religionen und Weltanschauungen. Mouhanad Khorchide wirbt für ein Sich-Öffnen des Menschen und schreibt: "Der Mensch kann sich Gott nur annähern, ihn jedoch nie wirklich erfassen oder begreifen. Der Mensch kann sich stets nur mit Demut und Bescheidenheit der Wahrheit annähern. Mit dieser Haltung ist er immer offen für Kritik, für die Überprüfung der eigenen Positionen und Argumente." Der Autor zeichnet ein bedenkenswertes und anregendes Porträt des islamischen Glaubens, das zur Reflexion und Diskussion einlädt – auch zum Nachdenken über das Verständnis von Freiheit in der Welt von heute, religiös, gesellschaftlich, ökonomisch und politisch gedacht: Wie frei sind wir, die wir uns doch für frei halten, eigentlich?

Gott glaubt an den Menschen
Gott glaubt an den Menschen
Mit dem Islam zu einem neuen Humanismus
269 Seiten, gebunden
Herder 2015
EAN 978-3451069581

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