A Good Girl in Berlin
In 36 hinreißenden Kapiteln und vier Teilen hat Aria Aber mehr als nur einen Roman über ihre Generation verfasst und sich schon mit ihrem Debüt als neuen Stern am deutschen Literaturhimmel etabliert. Die Autorin wuchs in Münster auf und lebt heute in Los Angeles.
Die Kinder von Bunker Mitte
Schon mit ihrem ersten Gedichtband "Hard Damage"(2019) sorgte die jetzt (2025) erst knapp über dreißig Jahre alte Autorin für Aufsehen. Aber mit ihrer Geschichte über Nila, die in Berlin-Neukölln in der Gropiusstadt wie einst Christiane F. aufwächst, legt sie den Schlüsselroman der Techno-MDMA-Generation vor, der mehr als nur ein Coming-of-Age-Drama und eine bloße Liebesgeschichte ist. Nila verliert früh ihre Mutter und lebt bei ihrem Vater und der afghanischen Verwandtschaft, die in ihrem Viertel von überall her ein Auge auf sie wirft. Als 19-Jährige ist sie noch in Ausbildung und verbringt ihre Freizeit im "Bunker". Der klassische Techno-Schuppen - wie ihn Berlin in den Neunzigern populär machte - wird zu ihrem eigentlichen Zuhause. "Good Girl" spielt allerdings schon in den Zehner-Jahren des 21. Jahrhunderts, es ist also bereits die zweite Generation, die sich zu den stampfenden Beats des Berliner Undergrounds allerhand Drogen wie MDMA, Speed u. ä. reinpfeift. So auch Nila und ihre Freunde. Nila nimmt tatsächlich ziemlich viel Drogen und hat viel Sex, "Sex mit dem Ziel, die eigene Mitte zu verlieren und den Tod zu vergessen." Aber dann hat sie auch wieder Zweifel, ob das, was sie mit Marlowe verbindet, wirklich echt ist und er wirklich sie meint, "dass nichts von dem, was er sagte, mit mir zu tun hatte, (...), sondern mit dem, was er in sich selbst verloren hatte: das Morgenlicht, die Hyazinthengärten, durch die er mit seiner Mutter spaziert war, die kleinen Flüsse, in denen er sich nach langen Tagen im Wald die Hände wusch".
Wasser vom Zamzam
Nila will Fotografin werden. Als sie sich in den amerikanischen Schriftsteller Marlowe verliebt, gibt sie sich vorerst als Griechin aus. Auch in ihrer Clique verrät sie niemanden ihren vollen Namen, da sie ihre Vergangenheit einfach vergessen will. Einerseits verweigert sie damit die Stereotype und Klischees, die damit bei ihren Freunden einhergehen, andererseits will sie einfach nicht mit dem Islam identifiziert werden. Auch "dass der Koloss von Geheimnissen, den ich hütete, bloß ganz gewöhnliche Armut war", versucht sie überall zu verbergen. Als der nationalsozialistische Untergrund (NSU) Berlins dann immer mehr Anschläge und Attentate durchführt und unschuldige Menschen für nichts und wieder nichts umbringt, beginnt sie sich immer mehr zu politisieren, und outet sich. Aber dann sucht sie ihr Heil doch in der Ausreise. Berlin wird ihr fehlen. Aber es ist einfach nicht mehr das Berlin, das sie liebte. Der gesellschaftlich-ideologische Hintergrund von Nila ist vom klassischen Berliner Milieu beeinflusst, sie liest Deleuze und andere poststrukturalistische Theorien, philosophiert über die Prognosen Houellebecqs zum 11. September, versetzt Prousts Madeleine einen Hubba Bubba Modernisierungsschub, setzt sich mit der RAF auseinander, bewundert Menu-Keshwar-Kamal (RAWA), die im afghanischen Befreiungskampf wahrscheinlich von den Sowjets ermordet wurde. Neben Marx und Nietzsche liest Nila aber auch viel Franz Kafka und es ist verblüffend, mit welcher Sorgfalt und welchem Feingefühl sie Auszüge aus seinem Werk für sich selbst paraphrasiert. "Wer könnte die Probleme eines Mannes, der in seinem Kinderzimmer in unmenschlicher Form gefangen ist, besser nachvollziehen als ein afghanisches Mädchen, das zu leben versucht?", fragt sie an einer Stelle, "Die Verwandlung" zitierend.
Mehr Reue für alle
"Kennst Du diese Leute, die immer darauf bestehen, dass sie nichts bereuen?", fragt Nila ihr bester Freund Eli. "Dieser Je ne regnete rien-Bullshit? Ich glaube, das ist Wellness-Propaganda. Wenn wir unsere Entscheidungen nicht freuen würden, wo wären wir dann?(...) Was aber, wenn man hasst, was man geworden ist? Ich glaube, wir müssen unser Verhältnis zur Reue überdenken." Nila wollte nie ein dokhtare khub, ein "good girl" sein, aber auch nicht unbedingt ein dokhtare kharab, ein gefallenes, ruiniertes Mädchen. Ein Mädchen ohne feste Freunde, ohne vulgäre Sprache, ohne hedonistischen Lebensstil. Ihre Eltern waren zwar fortschrittlich, aber sie wollten auch nicht, dass sie gemieden werden würden, das, "das wussten wir alle, war schlimmer als der Tod", schreibt sie. "Die politischen Implikationen waren damals zu komplex, aber ich war empfänglich für die Stimmung der Revolte". Bemerkenswert dabei ist "Stimmung", nicht etwa "Stimme", denn das ist genau das, was auch der Roman vermittelt, eine Stimmung des Aufbegehrens, des Mutes, des Aufbruchs. Nilas Geschichte wird von Aria Aber mit einer solchen Lässigkeit und Nonchalance erzählt, dass man sich an die großen Essayisten der amerikanischen Literatur erinnert fühlt. Aria Aber hat ihren Debütroman auf Englisch verfasst, da sie zweisprachig aufwuchs, aber auch die deutsche Ausgabe "übersetzt". Ihre Schilderung des Berliner Milieus ist derart authentisch und echt, dass man sich wie ein Zaungast einer versunkenen Epoche fühlt. Denn das Berlin, das Aria Aber beschreibt, ist längst der bundesdeutschen Wirklichkeit gewichen und zur Hauptstadt geworden, die keinen Platz mehr für ideologische Randgrüppchen lassen will.
Ein aufsehenerregendes Romandebüt, dem hoffentlich noch viele weitere Werke folgen werden.
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