Géza Csáth: Tagebuch 1912 - 1913

Ein rücksichtslos geführtes Leben

Géza Csáth hat zwei Abhängigkeiten, die nicht miteinander kompatibel sind. Den Sex braucht er, von den Drogen will er nicht lassen. So spritzt er sich alle zwei Tage eine Dosis Pantopon. Solange das Opiat wirkt, braucht er keinen Sex. Seine Süchte zu hinterfragen, lehnt der studierte Mediziner und Anhänger der Psychoanalyse kategorisch ab. Es reicht ihm, wenn er sich mit seinen Patienten befassen muss. Für die bringt er durchaus Sympathie auf, vor allem, wenn sie weiblich sind, jung und mit ihm ins Bett wollen.

Kann das gutgehen? Natürlich nicht. Vor allem, als Csáth die Drogen (über die er nur noch in der Metapher schreibt, als "Gift") nicht mehr kontrollieren kann und deren Konsum überhandnimmt. Genuss empfindet er bei deren Gebrauch nicht, nur Erleichterung. Ähnlich ist es beim Sex: Er erlöst ihn von all der aufgestauten Gier. Wenigstens scheint er, auch wenn Csáth dies nur nebenbei interessiert, den Frauen zu gefallen.

Eine Freundin hat Csáth auch. Leider wohnt sie in Budapest, er ist Kurarzt in Stubnya. Heute heißt das Städtchen Turčianske Teplice und liegt mitten in der Slowakei, die früher als Oberungarn wie selbstverständlich Teil der zweiten Hälfte der k.u.k. Doppelmonarchie war. Würde Csáth seine Olga täglich sehen und vernaschen, stellte der Sextrieb, dann befriedigt, vielleicht kein so großes Problem mehr dar. So aber … vögelt er sich durch die Phalanx der Kurschatten, wahllos Zimmermädchen, weibliche Kurgäste und deren auf Besuch weilende Freundinnen aufs Bett werfend. Über Koitus und Pantoponkonsum, sowohl die Häufigkeit als auch die Dosis betreffend, führt Csáth penibel Statistik. Mit der Akribie eines Buchhalters hält er fest, wieviel Mal er im Jahr koitiert und wieviel Gramm Pantopon er genommen hat. Dass sich beide Leidenschaften umgekehrt proportional verhalten, mit Tendenz zu letzterer, weiß er längst.

Was tun?, fragt sich Csáth, doch mangels anderer Leidenschaften, die er früher durchaus verfolgt und gepflegt hat, findet er keinen Ausweg. Er versucht, Regeln aufzustellen, um seinen Alltag neu zu ordnen und für die Zukunft Orientierung über den nächsten Geschlechtsakt oder die nächste Drogengabe hinaus zu finden. Er könnte seinen beruflichen Ehrgeiz forcieren und an seiner Karriere basteln. Er könnte alte Freundschaften wiederaufleben lassen. Er könnte sich besser vernetzen und Unterstützung bei einer Loge, etwa den Freimaurern, suchen. Er könnte mehr auf sein Äußeres achten, sich die Zähne richten lassen oder wenigstens ein neues Jackett zulegen. Er könnte wie früher schreiben, kurze Geschichten oder Theaterstücke, und wieder mal was veröffentlichen. Er könnte sich aufs Neue dem Klavier- oder Geigenspiel widmen, schließlich war er in frühester Jugend mal so etwas wie ein Wunderkind. Er könnte Koitus und Drogenkonsum nur noch jeden zweiten Tag vollziehen.

Da es aber schon bei letzterem Vorsatz hapert, lassen sich auch die anderen nicht in die Tat umsetzen. So endet das Tagebuch 1912 - 1913 mit dem Kapitel Die Geschichte meines Morphinismus, und der Leser weiß, dass von allen Leidenschaften am Ende nur eine übriggeblieben ist. Auch wundert er sich, dass Csáth nach dem Abfassen dieses Tagebuchs noch sechs Jahre gelebt und sogar einen Weltkrieg durchgestanden hat. Ein Jahr nach dessen Ende steht er an einem Grenzübergang, den es früher nicht gab. Seine alte Heimatstadt Szabadka heißt inzwischen Subotica und gehört zum neugebildeten jugoslawischen SHS-Staat. Serbische Grenzer halten ihn auf. Csáth ist aus einer Nervenklinik geflohen, danach hat er seine Olga erschossen. Jetzt will er nicht mehr weiterleben. Nachdem die Soldaten seine Bitte, ihn zu erschießen, ablehnen, nimmt Csáth alle mitgeführten Drogen auf einmal.

Ein rücksichtslos geführtes Leben, ein bizarrer Tod. Géza Csáths persönliches Drama könnte sich heute, fast ein Jahrhundert nach seinem Suizid, auf die gleiche Weise abspielen - obwohl sich die äußeren Umstände und Bedingungen drastisch geändert haben. Insofern ist das Tagebuch 1912 - 1913 eine sehr moderne Lektüre, die ihre Leserschaft freilich ein wenig ratlos zurücklässt.

Tagebuch 1912 - 1913
Hans Skirecki (Übersetzung)
Tagebuch 1912 - 1913
144 Seiten, gebunden

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