Die Bedeutung der Eisenbahn für die gesellschaftliche Entwicklung
Die ursprüngliche - präindustrielle - Bedeutung von "Maschine" sei nicht das technisch Gerät, sondern meinte den Täuschungs- oder Betrugseffekt, worauf auch das alte Wort Machination (für Machenschaft oder Trick) oder der Begriff des deus ex machina hinweisen würden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hätte sich die Bourgeoisie immer mehr "eine Welt nach ihrem eigenen Bilde erschafft", zitiert der Autor Marx/Engels in ihrer biblisch angelehnten Sprache. Das Hilfsmittel dafür war die Beschleunigung des Warenverkehrs durch die Eisenbahn. Ein Blick zurück.
Vor der Tür: die brandende Nordsee
Die Einführung der Eisenbahn im Zuge der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert hat nicht nur Wirtschaft, Infrastruktur und Stadtbild verändert, sondern auch die Wahrnehmung von Zeit und Raum, von Geschwindigkeit und Landschaft vollkommen erneuert. Ein Pferd verbrauchte Futtermittel für acht Arbeiter und so lag es im Interesse der Produktivkräfte und der Besitzer der Produktionsmittel diesen Verbrauch zu reduzieren. Dafür opferte man gerne Raum und Zeit auf dem Altar des Fortschritts und überließ sich - nach anfänglichem Zögern - allzu gerne dem "Panoramatischen Blick", wie Schivelbusch das Eisenbahnfahren auch nennt.
Tatsächlich glaubte man zu Beginn des Eisenbahnzeitalters noch an schwere Zerrüttungen von Körper und Seele, die die Vibrationen der Maschinen auf die Reisenden übertrage. Frankreich sei nun auf die Dimension der alten Provinz Il de France reduziert, befürchtete man in Paris, eine Art Zusammenziehung der Nation zur Metropolis. Heine, im Exil in Paris lebend, dichtete: "Mir ist als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Tür brandet die Nordsee". Unberührt bliebe man von der Landschaft der Reise, wie ein menschliches Paket an seinen Bestimmungsort geschickt. Der Kauf eines Eisenbahnbillets bedeute dasselbe wie der Erwerb einer Theaterkarte. Die Landschaft, die man mit dem Billett erwirbt, werde zur Vorstellung, so der allgemeine Glaube damals. Gar ein menschliches Projektil zu sein, befürchteten wiederum andere.
"moins disposé à la révolte"
Schivelbusch beschreibt die Entwicklung der Eisenbahn als modernen Abenteuerroman, der nicht nur die Unterschiede der einzelnen nationalen Einrichtungen erklärt, sondern auch darauf hinweist, dass die radikale Konsequenz der Eisenbahn nicht nur die Autobahn, sondern zuvor noch das Kaufhaus gewesen sei. Die Verbilligung der Waren durch Massenumsatz hätte das Kaufhaus zur industriellen Revolution im Einzelhandel gemacht. Die Grands Magasins, die in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden, lagen verkehrsgünstig für die Anlieferung unendlicher Warenströme und veränderten die Beziehung zwischen Verkäufer und Käufer revolutionär. Das Verkaufsgespräch war beendet sowie die Reiseunterhaltung in der Eisenbahn. "Die Städtenamen an den Bahnhöfen sind Signa desselben Prozesses, der den Waren die Preisschilder anheftet", so Schivelbusch resümierend.
Am besten auf den Punkt gebracht wurde diese Situation wohl von Hausmann, dem Architekten des "modernen Paris", der ganze Stadtviertel den Verkehrsachsen der neuen Metropole geopfert hatte. Seine Absichten beschrieb er mit folgenden legendären Worten: "assurer la tranquilité publique par la création de grands boulevards qui laisseraient circuler non seulemont l'air et la lumìere, mais les troupes et, par une ingénieuse combinaison, rendraient le peuple mieux portant et moins disposé à la révolte." Der Verkehr, die Zirkulation der Waren und Menschen als Pakete, eröffnete ein neues Zeitalter, das zwar von Komfort und Luxus gesegnet ist, allerdings viel an zwischenmenschlicher Interaktion und Kommunikation, vor allem aber die Kontrolle über die Produktionsmittel, einbüßt. Leider verstarb der König der Kulturwissenschaften 2023, ein Grund mehr seine Bücher zu lesen, die uns das Verständnis der Moderne so viel näher bringen wie die Nordsee vor der Türe.

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