Orientierung in schwierigen Zeiten? – Peter Schneiders Essay über die Vielfalt der Wissenschaften
Die deutsche Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel sprach im Herbst letzten Jahres leidenschaftlich davon, dass die Warnrufe der Wissenschaft in der Corona-Pandemie nicht überhört werden dürften. Gibt es überhaupt "DIE Wissenschaft"? Auch Dr. Georg Bätzing, Bischof von Limburg und Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz, bekennt sich zur Wissenschaft, als ob er der Theologie und seiner Kirche nicht mehr recht trauen würde. Wer das kirchenpolitische Spektakel "Synodaler Weg" verfolgt, entdeckt, dass der Bischof immer wieder fordert, dass die gesellschaftlichen "Humanwissenschaften" – so als ob es sich um absolut gesicherte Erkenntnisse handelt – bei der Weiterentwicklung der kirchlichen Lehre berücksichtigt werden müssten. Der Begriff "Humanwissenschaften", ein Sammelsurium für alle möglichen Disziplinen jenseits der Naturwissenschaften, stammt aus dem Denkkosmos des französischen Soziologen Michel Foucault. Verfällt ein Mensch, der an nichts mehr glaubt, in der Postmoderne neuen Formen der Wissenschaftsgläubigkeit? Der Philosoph Karl Jaspers warnte bereits zu seiner Zeit vor dieser Form säkularer Glaubensvarianten, der Zürcher Psychoanalytiker und Dozent Peter Schneider fragt darum mit Recht: Follow the Science?
Vor wissenschaftlicher Expertise, vor profunden Fachkenntnissen und Sachverstand herrscht allgemein großer Respekt, vollkommen zu Recht. Peter Schneider warnt vor naiver Einseitigkeit. Wissenschaft ist nicht Singular, sondern Plural, und die Wissenschaften sind nicht situiert in einem Bereich der Neutralität, sondern alimentiert und finanziert, ob von Drittmittelgebern. Wissenschaften sind gebunden an ökonomische wie politischen Interessen oder auch bestimmte Forschungstrends. Zu manchen Gebieten der Wissenschaften gehören auch Formen der öffentlichen Inszenierung. Ein Beispiel für die beliebige Instrumentalisierung von höchstens partikular relevanten Formen der Gesellschaftstheorien sind die oben angeführten "Humanwissenschaften". Schon der unbestimmte Begriff suggeriert verlässliche, modernitätstaugliche Erkenntnisse. Dazu muss man aber wissen, dass verifizierbare Einsichten der Lebenswissenschaften – etwa der Biologie – von diesen sozialwissenschaftlich orientierten Theorien gänzlich unberücksichtigt bleiben oder nur selektiv wahrgenommen werden. Doch der Begriff "Lebenswissenschaften" klingt zeitgemäß und wichtig. Mag die katholische Kirche im deutschen Sprachraum als Institution zuweilen wie eine Art müder Dinosaurier anmuten, so bekennen sich einige ihrer führenden Vertreter heute weltoffen, postmodern und alert wie interessegeleitet zu den "Humanwissenschaften", um binnenkirchliche Strukturreformen zu legimitieren. Also "Follow the Science!" statt Jesus von Nazareth?
Peter Schneider legt dar: "Es gibt nicht DIE Wissenschaft und es gibt nicht EINE wissenschaftliche Methode; es gibt viele Wissenschaften und viele wissenschaftliche Methoden. Es gibt kein Primat der Methode: anything goes, whatever works – wenn es denn der Erkenntnis dient. Weil etwas wissenschaftlich ist, ist es noch nicht gut; die Wissenschaften sind voller junk und bullshit. Wissenschaftlichkeit ist kein Garant für die Güte der Wissenschaften, sie kann auch lediglich die Fassade für erkenntnisfreien Leerlauf sein." Auch in wissenschaftlichen Bereichen gebe es "zu jeder Meinung eine Gegenmeinung". Wer von "die Wissenschaft" spreche, der zeichne eine "Karikatur von realen Wissenschaften". Schneider warnt davor, ein "idealisiertes Bild der Wissenschaften" aufzuzeigen. Niemand könne "DER Wissenschaft" folgen, denn diese gebe es nur als Fiktion. Man müsse darum, so Peter Schneider, "die Wissenschaft ja nicht nur gegen ihre Feinde, sondern auch gegen eine bestimmte Sorte ihrer Apologeten verteidigen". Wer sich etwa mit dem Konstruktivismus beschäftigt, wird auch etliche Spielarten desselben kennenlernen können, in denen ein Konvolut an absurden Behauptungen und illuminierten Fantasien als wissenschaftlich ausgegeben werden könne. Was unbeweisbar ist, tritt als Weltanschauung auf, als mögliche Betrachtungsweise oder auch als eine philosophische Theorie, die mancherorts ernsthaft diskutiert wird. Eine gegenwärtig virulente Variante einer "Verschwörungstheorie" führt der Autor an: "Das Corona-Virus gibt es in Wirklichkeit gar nicht, der Eindruck der Wirklichkeit einer Pandemie wurde sozial konstruiert: in diesem Fall von Bill Gates. So ist es freilich nicht." Notwendig, so zeigt Peter Schneider anschaulich auf, sei wissenschaftliche Expertise, nicht aber die Absolutsetzung von bestimmten Partikularkenntnissen oder abwegigen Hypothesen, die als Wissen ausgegeben würden. Es gelte vorsichtig zu sein, "DIE Wissenschaft anzurufen", auf eine Weise, "wie Kinder Mama und Papa rufen, wenn sie nicht weiterwissen": "Die Grenzen der Wissenschaften hinsichtlich politischer Entscheidungen anzuerkennen, heißt nicht, sich auf ein Feld zurückzuziehen, in dem Wissenschaften nichts zu sagen hätten oder in einen Ruheraum, in dem man abwarten kann, bis DIE Wissenschaft dann definitiv etwas zu sagen hat." Widersprüche und Grenzen müssen akzeptiert und auch ertragen werden. Peter Schneider denkt darum über "Transwissenschaft" nach und erläutert diese wie folgt: "Transwissenschaft hat nichts mit Wissenschaftsskepsis oder Unwissenschaftlichkeit zu tun. Sie hat lediglich etwas damit zu tun, wissenschaftlich informierte Entscheidungen zu treffen, die nicht allein wissenschaftlich entschieden werden können." Wer naiv von "DER Wissenschaft" spreche, dem sei nicht zu trauen, denn ein solches Wissenschaftsverständnis setze in einer säkularen Gesellschaft das, was unter Wissenschaft verstanden werde, an die "Stelle Gottes". Darüber ließe sich dann religionswissenschaftlich diskutieren. Peter Schneider unterscheidet klar: "Während die einen auf den unparteiischen Schiedsspruch der Wissenschaften pochen, weisen die anderen zu Recht darauf hin, dass Wissenschaften nicht außerhalb der Gesellschaft angesiedelt sind."
Wir leben heute weniger in einer Welt "unzweifelhafter Gewissheiten", sondern wir sind viel eher umgeben von "unsicheren Neuheiten". Dass das nicht immer ganz einfach ist, zeigt die Corona-Pandemie mit all ihren Begleitphänomenen seit über einem Jahr. Peter Schneider ermutigt, einen klaren Blick auf die Welt, in der wir leben, zu bewahren, so manche Illusionslosigkeit auszuhalten und nüchtern wie vernünftig ebenso kruden Verschwörungstheorien wie einer bloßen Wissenschaftsgläubigkeit zu widerstehen.
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