Europa in seiner Gesamtheit
Was ist Europa? Die geographischen Definitionen verschoben seine Grenze gegenüber Asien vom 16. bis 20. Jahrhundert immer weiter Richtung Osten. Trotzdem lässt sich sagen, dass bestimmte Faktoren der Reliefgestaltung als Geodeterminanten den Charakter Europas und damit auch seine Geschichte bestimmt haben und bestimmen. Elisabeth Lichtenberger fasst diese schlagwortartig und eindrücklich zusammen: "Europa ist ein dem Meer zugewandter Erdteil." (S. 39) Europa ist nämlich nicht nur im Norden, Westen und Süden von Meeren umgeben, seine Küsten sind auch so tief gegliedert, dass diese im Verhältnis zu der relativ kleinen Fläche des Kontinents nahezu doppelt so lang sind wie jene der anderen Erdteile. Außerdem verfügt Europa zwar nur über relativ kleine Flüsse, es gibt keine Riesenströme, doch von diesen sind viele schiffbar, stellen also eine Verbindung zum Meer dar. Lichtenberger führt die "Extrovertiertheit" der historisch-politischen Entwicklung Europas, die sich zum Beispiel in der Kolonisierung weiter Teile der Welt äußerte, auf diese besondere Nähe zum Meer zurück. Europa ist durchgängig für den Verkehr, denn auch die Hochgebirge wurden früh besiedelt und waren passierbar. Und Europa ist "kleinräumig" (S. 40), ein "Kontinent mittleren Maßstabs", in dem auch echte Riesenberge fehlen. Der geologische "Mangel an Raum" führte zu "besonders komplizierten Überschiebungen, Verfaltungen und Bruchstrukturen". Im Gegensatz etwa zu Nordamerika sind klimaökologische Zonen relativ scharf gegeneinander abgegrenzt, während dort durch die Nord-Süd-Richtung der Gebirge klimatische Übergangszonen Hunderte von Kilometern ausmachen. Diese Kleinräumigkeit spiegelt sich auch in der politischen Gliederung Europas wider.
Klimatisch ist Europa ein Gunstraum mit ausgeglichenem Klima und vorhersehbarem Witterungsverlauf, der zum größten Teil in der gemäßigten Zone liegt und dem Golfstrom eine positive Wärmeanomalie von etwa zehn Breitengraden verdankt.
Doch die Autorin behandelt in diesem Werk nicht nur die geographischen Bedingungen und die sich daraus direkt ableitenden Merkmale - Landwirtschaft, Städte, Wirtschaft und Verkehr -, sondern geht neben Geschichte und Kultur auch ausführlich auf politische Besonderheiten ein - auf den für Europa typischen sozialen Wohlfahrtsstaat oder die moderne Freizeitgesellschaft und natürlich die Europäische Union, die immer mehr zum Synonym für Europa wird. Insofern ist dieses Buch ein grundlegendes Überblicks- und Nachschlagewerk, in dem man zu jedem Thema das Wichtigste findet und sich grundlegend informieren kann. Gut ist, dass in vielen Kapiteln, zum Beispiel in denen über Wirtschaft und Landwirtschaft, eine Gegenüberstellung mit den USA erfolgt, so dass der Leser erfährt, wo Europa im internationalen Vergleich steht. Umgekehrt finden Staaten, die nicht der Europäischen Union angehören, seltener Berücksichtigung. Am ehesten sind dies die Beitrittskandidaten Rumänien und Bulgarien, aber auch Norwegen oder die Ukraine. Die Türkei als weiterer Beitrittskandidat ist zum Vergleich in die meisten Tabellen einbezogen. Die Schweiz kommt wenig vor, Weißrussland oder Moldawien fast gar nicht.
Je nach Thematik eines Kapitels wird Europas Grenze und damit die behandelte Region anders gezogen und reicht einmal bis zum Ural, einmal nur bis zum Karpatenbogen; Letzteres beispielsweise im Abschnitt über die europäische Stadt, weil dort, "die historische Front der europäischen Stadtkultur" liegt (S. 188). Interessant ist, dass sich Europa nicht nur hinsichtlich seiner Stadtstrukturen, sondern auch der Entwicklung des ländlichen Raumes, der Dörfer und der landwirtschaftlichen Bodennutzungsformen und Wirtschaftsweisen erheblich von zum Beispiel Nordamerika unterscheidet. Dadurch, dass die landwirtschaftlich nutzbare Fläche in Europa relativ knapp ist, steht "Europa unter dem Diktat einer anhaltenden Steigerung der Flächen- und Arbeitsproduktivität" (S. 227). Die Anteile der Agrarwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt betragen in den 15 alten EU-Mitgliedsstaaten nur noch 1 bis 5%. Ein technisch modern ausgestatteter Arbeitsplatz kostet heute in der Landwirtschaft aber 250.000 Euro und ist damit doppelt so teuer wie in der übrigen Wirtschaft. Somit kann die Landwirtschaft in Europa nur noch dank ihrer Subventionierung überleben. In diesem Zusammenhang wird auch verständlich, dass die neue, kommerzialisierte Landwirtschaft einen Aspekt, der als wichtiger Grund für ihre Subventionierung genannt wird - die Landschaftspflege -, gar nicht leisten kann. "Räumliche Konzentrationsprozesse und betriebliche Spezialisierungen ließen in weiten Teilen Europas neue Typen von Agrarlandschaften entstehen, welche das Muster der traditionellen ländlichen Kulturlandschaften, wie es zu Beginn des 20. Jahrhunderts sichtbar war, flächig zerstört haben. Dies ist nicht weiter erstaunlich, denn die traditionellen Lebensformen der Agrarverfassung [...] sind nahezu ausgestorben". Diese "stille Revolution" hat "zuerst die Agrarbevölkerung dezimiert und dann neue Formen der Agrarwirtschaft geschaffen, die wohl den ländlichen Raum als Produktionsstätte benötigen, seine kulturlandschaftliche Gestaltung aber nicht mehr als integrierte Aufgabe betrachtet. Diese muss vielmehr von einer neuen ländlichen Gesellschaft übernommen werden, welchen den ländlichen Raum als Wohngebiet mit hoher Lebensqualität gegenüber städtischen Lebensräumen präferiert." (S. 252)
Zahlreiche Fotos, Satellitenaufnahmen und Karten machen das Buch anschaulich. Tabellen mit Zahlen zu Wirtschaft, Landwirtschaft und Demographie und ein topographisches sowie je ein geo- und ein humanwissenschaftliches Sachregister schließen den Band ab.
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