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Markus K. Brunnermeier, Harold James, Jean-Pierre Landau: Euro

Das Kernproblem des Euro liegt in den unterschiedlichen Wirtschaftskulturen

"Der 18. Oktober 2010 veränderte die europäische Politik. Bundeskanzlerin Angela Merkel war in das Seebad Deauville in der Normandie gereist, um mit dem französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy die europäische Finanzkrise zu besprechen. Auf Pressefotos sieht man die beiden in dunklen Regenmänteln die menschenleere herbstliche Strandpromenade entlanglaufen: Sarkozy heftig gestikulierend, daneben Merkel mit einer Miene blanken Unverständnisses. Einen Moment lang sah es so aus, als würden die deutsche und die französische Sicht auf die Welt frontal aufeinanderprallen, doch tatsächlich schlossen die beiden einen spektakulären Kompromiss: Deutschland bot an, seine strenge Regelorientierung zu lockern und Frankreich entgegenzukommen, wenn sich Frankreich im Gegenzug bereit erklärte, einem griechischen Schuldenschnitt mit «einer angemessenen Beteiligung privater Gläubiger» zuzustimmen." (S. 1)

In Deauville wurde nach Ansicht der Autoren deutlich, dass in erster Linie grundlagende Meinungsverschiedenheiten zwischen Frankreich und Deutschland über die adäquaten wirtschaftspolitischen Maßnahmen dafür verantwortlich waren, dass sich Europa mit einer gemeinsamen Antwort auf seine Finanzkrise so schwertat. Die Verfasser markieren dieses Treffen als entscheidenden Moment des Konflikts unterschiedlicher Philosophien, welcher die Eurokrise und deren Behandlung in der Folge prägen sollte. Das Werk verfolgt einen internationalen sowie interdisziplinären Ansatz und analysiert insbesondere den Kampf der unterschiedlichen Ideen, d. h. der langfristigen historischen, intellektuellen und kulturellen Ursachen für die gegensätzlichen deutschen und französischen Wirtschaftsphilosophien, die oftmals auch stellvertretend für die Unterschiede zwischen Nord- und Südeuropa stehen. Es werden auch die verschiedenen Phasen der Krise nachgezeichnet und wesentliche Schritte eines Fahrplans für Europas Zukunft entworfen.

Ein weiterer Mehrwert dieser Publikation des sich in idealer Weise ergänzenden Autorenkollektivs gegenüber vielen Schriften zur Finanzkrise und Euro-Problematik ist der gelungene Versuch, dass ein gemeinsamer Text verfasst wurde, also nicht jeweils separate und nur durch eine "nationale Brille" geschriebene Abhandlungen. Damit wurde eine echte Integrationsaufgabe geleistet, welche leider in vielen Sammelbänden nur dem Leser überlassen wird. Brunnermeier ist Deutscher, Geldtheoretiker und Professor of Economics an der Universität Princeton, James ist Engländer, Wirtschaftshistoriker und Professor of History and International Affairs ebenfalls in Princeton, Landau ist Franzose, war Spitzenbeamter beim IWF und anderen internationalen Organisationen, ehemaliger Vizepräsident der Französischen Nationalbank und lehrt heute Wirtschaftswissenschaften an der Sciences Po in Paris. Ein weiteres Verdienst der Autoren liegt darin, dass sie es geschafft haben, eine anspruchsvolle Materie mit komplizierten Fachthemen unterhaltsam, teilweise sogar spannend aufzubereiten und damit nicht nur einem engeren Expertenkreis zugänglich zu machen. Kein Wunder, dass das Buch auf den Jahresbestenlisten von Bloomberg, Economist und der Financial Times aufgeführt wurde.

Das Werk gliedert sich in vier Teile:
Teil I "Machtverschiebungen und deutsch-französische Differenzen" macht deutlich, dass sich die Mitglieder in der Zeit der Bewährung, in welcher der gemeinsame Zusammenhalt besonders wichtig gewesen wäre, auf ihre nationalen Interessen zurückgezogen haben. Es wird die infolge der Eurokrise ab dem Frühjahr 2010 erfolgte fundamentale Verschiebung der Entscheidungsbefugnisse von den supranationalen europäischen Institutionen in Brüssel auf die nationalen Hauptstädte zunächst nach Berlin und Paris und schließlich nur nach Berlin offengelegt. Danach werden historisch bedingte institutionelle Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland erarbeitet, u. a. Zentralismus versus Föderalismus, nationale Vorzeigeunternehmen im Gegensatz zum Mittelstand, konfrontative versus kooperative Gewerkschaften und historische Inflationserfahrungen. Abschließend werden wesentliche Unterschiede in den Wirtschaftsphilosophien Deutschlands und Frankreichs gegenübergestellt. In Deutschland dominiert ordoliberales Denken, d. h. man fordert eine in klare Regeln eingebundene Marktwirtschaft, in der Verträge gelten und eine politikunabhängige und der Geldwertstabilität verpflichtende Geldpolitik sowie eine regelgebundene Fiskalpolitik mit strenger Begrenzung der Staatsverschuldung verfolgt werden. Hingegen gilt als moderner französische Konsens, dass staatlicher Planung viel und den Marktprozessen eher wenig zugetraut wird, Regeln sollen in einem politischen Prozess festgelegt werden und es sollte möglich sein, diese neu auszuhandeln. Krisenmanagement erfordert eine flexible Reaktion und es wäre undemokratisch, die Handlungs- und Kreditaufnahmefreiheit des Staates einzuschränken. Geldpolitik sollte auch noch anderen Zielen, etwa der Förderung des Wirtschaftswachstums, dienen.

Teil II "Monetäre und fiskalische Stabilität: Der Geist von Maastricht" analysiert die Unterschiede in den ökonomischen Denkmustern, die bereits im Zuge der Maastricht-Verhandlungen deutlich wurden und die sich während der Eurokrise erneut zeigten. Dabei geht es um den Gegensatz zwischen Regelbindung und Flexibilität, Haftung kontra Solidarität, Solvenz versus Liquidität und Austerität oder Stimulus. Dabei weisen die Verfasser nach, dass es für jede der vier Optionen überzeugende Gründe gibt, sie machen aber auch deutlich, dass sie die Maastricht-Regeln als zu eng und einseitig an die jeweils erste Option ausgerichtet sehen.

Teil III "Finanzstabilität: Das Stiefkind des Vertrags von Maastricht" befasst sich mit einer gravierenden Lücke im Vertrag von Maastricht, nämlich mit dem Problem der Finanzmarktinstabilität und entsprechenden Lösungsansätzen. Die Autoren verweisen darauf, dass die meisten Ursachen für die Instabilität von Finanzmärkten im Maastrichter Vertragswerk nicht berücksichtigt wurden. Die seinerzeitige Fehlannahme war: solange die Zentralbank die Preisstabilität garantieren könne, reiche die mikroprudenzielle Regulierung aus, um die Stabilität des Finanzsystems sicherzustellen. Insolvente Banken hätten in den Konkurs zu gehen und vor insolventen Staaten würde die No-Bail-Out Klausel schützen. Die starke Vernetzung der Banken, Kapitalmärkte und Staaten wurde hingegen nicht richtig erkannt, so dass infolge der Krise auf die Anwendung der No-Bail-Out Klausel verzichtet und das Verbot der Staatsfinanzierung durch die EZB umgangen wurde. In einem weiteren Schwerpunkt befassen sich die Verfasser mit dem Vorschlag einer die gesamte Eurozone umfassenden Banken- und Kapitalmarktunion und empfehlen u. a. die Schaffung von Europäischen Safe Bonds (ESBies).

Teil IV "Perspektiven anderer Länder" verlässt den Fokus auf die deutsch-französischen Denkweisen und bezieht verschiedene andere Sichtweisen ein. Besonderes Gewicht nimmt hierbei Italien ein, ein Mikrokosmos der europäischen Erfahrung, in dem sich auf nationaler Ebene viele Aspekte der Probleme Europas wiederfinden. Daneben werden die angloamerikanische Sichtweise aber auch die Chinas und Russlands referiert. Abschließend wird die Rolle des Internationalen Währungsfonds (IWF) und die der EZB charakterisiert. Letzterer wird von den Verfassern bescheinigt, eine umsichtige Politik betrieben und den Euro faktisch gerettet zu haben. Was den Erfolg der zukünftigen gemeinsamen Bemühungen der europäischen Politiker angeht, stimmt die im Buch auch erarbeitete Erkenntnis hoffnungsfroh, dass sich Denktraditionen ändern können, d. h. nicht alle Unterschiede sind in Stein gemeißelt und auf Dauer angelegt. So hätten z. B. die Franzosen vom 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts stark auf Regeln und Disziplin gesetzt, Deutschland hingegen hohe Staatsdefizite betrieben. Die Eliten auf beiden Seiten des Rheins haben lediglich gegensätzliche Schlüsse aus ihren historischen Traumata gezogen.

Dieses Werk stellt einen wichtigen Beitrag zur Analyse der währungs- und finanzpolitischen Problematik in Europa dar und ist vor allem auch im Hinblick auf die von Emmanuel Macron angestoßene Debatte für die anstehenden Reformen in der europäischen Gemeinschaft relevant, etwa im Hinblick auf die Bestellung eines Finanzministers und die Schaffung eines gemeinsamen Budgets.


von Bernd W. Müller-Hedrich - 13. März 2018
Euro
Markus K. Brunnermeier
Harold James
Jean-Pierre Landau
Thorsten Schmidt (Übersetzung)
Euro

Der Kampf der Wirtschaftskulturen
C.H.Beck 2018
525 Seiten, gebunden
EAN 978-3406712333