Linda Zervakis: Etsikietsi

Sympathische Lebensgeschichten – Unterwegs mit Linda Zervakis in Griechenland

Altphilologen wie Philosophen schwelgten, verzückt wie betört, in Fantasien über die hellenische Welt, und das Bildungsbürgertum schwelgte mit. Dichter wie Friedrich Hölderlin spürten emphatisch dem Land der Griechen mit der Seele nach, Goethes Wort aus "Iphigenie auf Tauris" folgend. Udo Jürgens besang schwermütig und höchst erfolgreich in den 1970er-Jahren den "Griechischen Wein" und das Los der Gastarbeiter. Vielleicht fehlte einfach eine hanseatische Perspektive, mit griechischer Kolorierung, nüchtern und humorvoll? Linda Zervakis, gebürtige Hamburgerin und somit ein echtes Nordlicht mit klarem Blick, erzählt eine besondere Familiengeschichte. Zudem reist sie mit ihrer Mutter Chrissoula "Chrissi" Zervakis nicht mit der Seele in mythische Gefilde, sondern einfach mit dem Flugzeug nach Griechenland.

In bunten Heften, politischen Magazinen und in wissenschaftlichen Diskursen wird heute oft, ja ständig über Identität nachgedacht. Wissen Sie, wo Sie wirklich hingehören? Oder machen Sie diese Konversationen auch nur müde? Im Boulevardblatt oder im deutschen Leitkulturklub drängen Experten zur Entscheidung. Linda Zervakis berichtet: "Ich bin also bi. Ganz interessant, was ich so über mich in der Zeitung lese. Also … bikulturell. Das klingt nicht nur bescheuert, es fühlt sich auch genauso an." Eine schwäbelnde Sekretärin fragt die Tagesschausprecherin: "Könnet Sie uns höre, Frau Zervakis?""Hören schon, aber nicht verstehen." Im Südwestdeutschen Rundfunk dominieren anscheinend der regionale Akzent und der identitätsbewusste Ernst. Der Moderator der Sendung möchte wissen: "Wenn Sie sich für einen Pass entscheiden müssen, was viele Politiker gerade fordern: griechisch oder deutsch?" Linda Zervakis erwidert: "Ich fühle mich wie Gyros mit Bratkartoffeln." Der Moderator schweigt. Er bemerkt nicht, dass seine Frage zugleich charmelos, unverschämt und eine unbemerkte Selbstentblößung war. Die Journalistin sagt weiter, ja, sie sei Europäerin, und ergänzt, der Kiosk ihrer Eltern sei eine "gute Schule fürs Leben" gewesen: "Man lernt da auch, Vorurteile abzulegen." Linda denkt an ihre eigene Geschichte zurück: "In meinem Inneren spielen unglaubliche Szenen. Mit großen Schritten spule ich mein Jazzdance-Programm zur Melodie mit dem Plastik-Sound ab, mit Stulpen über den Leggins tanze ich durchs Studio, ein pinkfarbenes Stirnband hält meine wilde Mähne aus dem Gesicht. So bin ich aufgewachsen. Und zwar in Deutschland."

Chrissi Zervakis überreicht ihrer Tochter mit den Worten "Bitte schön, mein Leben" eine Kladde, mit handgeschriebenen Aufzeichnungen – Erinnerungen an die Familie, an ihre Kindheit und den Weg als Gastarbeiterin nach Deutschland. Linda möchte mehr wissen über Opa Kostas und Oma Sofia, vom Leben auf der "kargen Halbinsel Peloponnes", von der Olivenernte in Kalithea. Griechenland hatte eine "Dauerkarte für Tragödien". Kostas war zunächst Erntehelfer, dann Hafenarbeiter: "Auch bei den Schlägereien in den Hafenbaracken war seine Rolle schnell geklärt: Er konnte besser schlichten als kämpfen." Er bricht Richtung Athen auf, um etwas zu lernen. In Piräus küsst ihn Nike aus Smyrna, die "im Hafen von Piräus niemals dem Glück" und irgendwann "auch Kostas über den Weg gelaufen war". Heiraten aber wird Kostas die Näherin Sofia: "Er verliebte sich sofort in die schöne Brünette mit den langen, geflochtenen Haaren. … Sofia war ein zurückhaltendes Mädchen, deren Leidenschaft bis dahin der Kirche gegolten hatte." Kostas begleitet sie auch zum Gottesdienst: "Das Brautpaar hatte sich bis zur Eheschließung kaum unterhalten, aber das störte sie nicht. Wie viele Liebesgeschichten … diente auch diese Beziehung einem einfachen Zweck. Kostas und Sofia bekamen schnell Kinder: Stavroula, Irini und Chrissi. Töchter waren damals so viel wert wie männliche Küken. Sie wurden zwar nicht gleich aussortiert, aber die meisten Väter waren froh, wenn sie eines Tages unter der Haube waren und nicht mehr am eigenen Tisch durchgefüttert werden mussten. Doch – bei aller Härte – auch Küken kann man liebhaben." Nach den Mädchen folgt die Geburt von Sohn Jannis. Bei einem Hausbrand verliert die Familie fast ihre ganze Habe, Spielsachen inklusive. Über die Kriegsjahre finden sich wenig Einträge. Chrissi bekräftigt, dass die deutschen Soldaten, zumindest jene im Dorf, "gut zu uns" waren. Von den Massakern und Vergewaltigungen der NS-Besatzer blieb die Familie verschont. An die Hungerszeit nach dem Krieg erinnert sich Chrissi deutlich. In den Notizen hält sie über die "Kinder von Trikala" aber nur "schöne Erinnerungen" fest. Etsikietsi – so lala –, das sei das "höchste der Gefühle bei ihr". Chrissi blickt ohne Vorwürfe zurück, die Welt von heute nervt sie aber sehr. Sodann weckt Spyro ihr Interesse, mehr aber begeistert sie sich für die Schauspielschule, die er besucht. Ihr Talent fällt auf, aber der Vater wünscht sich, dass sie heiratet: "Chrissis Platz war immer auf den Feldern und Weiden gewesen. Irgendjemand musste die Baumwolle ja ernten." Sie absolviert "ihr Programm" leidenschaftslos, "bis Deutschland sie brauchte".

Mutter Chrissi und Tochter Linda entscheiden sich für einen Aufbruch nach Griechenland. Aus der "Mutter-Kind-Kur am Strand" wird eine "Reise zu meinen Wurzeln", verbunden mit "Ermittlungen vor Ort" und einem "Familientreffen in Weiß". Die Einladung zur Hochzeit kommt überraschend. Linda Zervakis beschreibt das Brautpaar – "er: mit Bauch und Vollbart, sie: mit großer Zervakis-Nase": "Die Kleine, die ich noch nie gesehen habe, scheint in all den Jahren, in denen ich nur von ihrer Existenz ahnte, ins heiratsfähige Alter hineingewachsen zu sein ..." Begegnungen folgen, sehr anschaulich geschildert, denn "meine Tanten und Cousinen fahren mehr Make-up auf, als Thomas Gottschalk in 70 Jahren verbraucht hat (und viel mehr, als ich habe)". Ihr Schmuck würde jeden "Hoteltannenbaum" übertreffen. Zugleich würdigt Linda Zervakis das Brauchtum hierzulande: "Chrissi und ich bleiben, ganz Mutter und Tochter, lieber am Tisch sitzen, wenn in Deutschland geheiratet wird. Wir empfinden es beide als Zumutung, vor der Kirche mit Reis beworfen zu werden und stehend, mit einem Glas Sekt in der Hand, auf die Gesellschaftsspiele oder Gedichte im Anschluss zu warten, die zu einer deutschen Hochzeit gehören wie der Baumstamm vor dem Standesamt." Hochzeiten sind stets farbige Ereignisse und fast immer eine ziemliche Strapaze für nahezu alle Beteiligten: "Eigentlich wollten wir uns doch am Meer erholen und ein wenig Heimatluft schnuppern! … Das ist schon lange nicht mehr das Land, das meine Eltern verlassen haben." In Plaudereien mit Verwandten erfährt Linda Zervakis dann doch mehr. Chrissi trifft ihre Schwestern wieder. Irini findet ihre Erfüllung als Gärtnerin, das Obst "schmeckt saftig und süß": "Nicht mal die Zitronen vom Baum sind hier sauer. Ich könnte ewig so sitzen bleiben und immer wieder etwas naschen, das für mich gepflückt wird."

Den diskreten Charme des kirchlichen Zeremoniells bei der Hochzeit würdigt die Autorin präzise. Das unverständliche "Gebrabbel vom Altar" habe "etwas Beruhigendes", ebenso die Ikonen. Tröstlich ist, dass die Gemeinde nicht singt, erfreulich auch, dass das gemeinschaftliche Essen auf der anschließenden Feier nicht mit launigen Ansprachen gewürzt wird: "Es gibt davor keine Reden (es gibt überhaupt keine Reden), keine Gedichte und auch keine Spielchen. … Ein ganz einfaches Essen in großer Runde, bei lautem Geplauder." Linda Zervakis berichtet von einem harmonischen, ausgelassenen Abend. Vor der Abreise nach Deutschland erfolgt noch ein Besuch bei Chrissis Schwester Stavroula. Für sie sind die "Geschichten von früher" noch "sicheres Terrain", aber vieles entschwindet ihr: "Und wer ist diese attraktive Dame da?""Linda ist doch meine Tochter.""Eine Tochter? Du hast eine Tochter?" Ihr Sohn sagt, sie sei wie ein kleines Kind, das Gedächtnis habe sie irgendwo abgelegt und finde es nicht wieder. Am Schreibtisch dann fragt sich Linda Zervakis: "Weiß ich inzwischen mehr über meine Wurzeln, über unsere Familie, über mich? Ich weiß es nicht. Mamas kurzer Tanz auf den Brettern, die die Welt bedeuten, über den sie heute gar nicht mehr spricht, unsere gemeinsamen Reisen und die Geschichten von früher, die inzwischen zu Legenden geworden sind, kommen mir eher vor wie die Teile eines Puzzles, dessen Rand gerade einmal fertig ist. Dazwischen sind immer wieder Lücken, man erkennt höchstens Teile eines Ganzen. Aber darin erkenne ich mich." Hellwach, herzlich und wirklich komisch, also sehr unterhaltsam erzählt Linda Zervakis bunte, verschlungene Lebensgeschichten. Wer über Identität mit bleierner Nachdenklichkeit sinnieren möchte, wird mit philosophischen Traktaten sicher eher glücklich werden. Allen anderen sei dieses vergnügliche, klarsichtige und lesenswerte Buch empfohlen. Linda Zervakis schreibt nicht emphatisch, aber empathisch – und das tut einfach gut.

Etsikietsi
Etsikietsi
Auf der Suche nach meinen Wurzeln
208 Seiten, broschiert
Rowohlt 2020
EAN 978-3499634420

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