Literarische Klangträume und musikalische Schwebezustände – Murakamis fantasievolle Erzählungen
Der japanische Schriftsteller Haruki Murakami gehört zu den besonders schreibfreudigen Erzählern, der Wahrnehmungen auf eigensinnig fantasievolle Weise darstellen und verfremden kann – in großen, weiträumigen Romanen und in kleinen, episodisch mitunter verspielten und doch spielerisch leicht erzählten Geschichten. Murakami provoziert nicht. Er schreibt feinsinnig, möchte die Schönheit dieser Welt neu entdecken und behutsam kolorieren. Die neu publizierten Erzählungen entwickeln sich aus einer sehr besonderen Ich-Perspektive – "Erste Person Singular" – und sind kunstvoll verschieden gestaltet.
Murakami pflegt eine höchst seltene Kunst, die er unscheinbar präsentiert. Mit dem ersten Satz erfährt der Leser etwa, dass ihm von einer jungen Frau berichtet werde. Unmittelbar danach gibt der Autor zu erkennen, "dass ich so gut wie nichts über sie weiß", ja dass er sich weder an ihren Namen noch an ihr Gesicht erinnern könne. Umgekehrt verhalte es sicher nicht anders. Was weiß also dieser Ich-Erzähler über die nahezu Unbekannte? Wie kann er von jemandem erzählen, den er gar nicht kennt? Murakamis Alter Ego fantasiert, auch über die junge Dame. Sie war etwas älter als der Ich-Erzähler selbst: "Wir jobbten zu denselben Zeiten im selben Restaurant. Irgendwann verbrachten wir einmal eine Nacht miteinander. Danach habe ich sie niemals wiedergesehen." Entspinnt sich daraus der Stoff für eine romantische Geschichte oder für eine schwermütige, sentimentale Erinnerung? Die "Regungen meines Herzens" sowie die Empfindungen anderer Personen bleiben im Verborgenen. Auch um eine Momentaufnahme leidenschaftlicher Zuneigung handelt es sich nicht: "Ich war nicht sonderlich scharf auf sie und sie sicher auch nicht auf mich." Der Moment der sexuellen Begegnungen aber überrascht beide in einem guten Sinn, denn sie erleben ein "erstaunliches Gefühl von Intimität". Ineinander verliebt, im klassischen Sinne, sind sie nicht nicht, aber die irritierend lustvolle Zweisamkeit besteht zumindest im Augenblick. Oder doch nicht? Sie schlafen miteinander, aber sehen sie sich wechselseitig überhaupt an? Wollen sie einander erkennen? Der junge Literaturstudent wird gefragt, ob er Schriftsteller werden wolle. Was erwidert er darauf? "Nicht unbedingt, antwortete ich wahrheitsgemäß. Damals hatte ich tatsächlich nicht die Absicht. Es war mir nicht einmal in den Sinn gekommen, obwohl in meinem Fachbereich massenhaft Leute verkündeten, Romane schreiben zu wollen." Die Fragende scheint das zu bedauern. Dass sie Gedichte schreibt, erfährt er erst später. Er erinnert sich an ihre Traurigkeit. Oder bildet er sich das nur ein? Vielleicht war ihr eine Spur von Wehmut zu eigen, vielleicht fantasiert er nur: "Wir waren einander kurz begegnet wie zwei Geraden, die sich an einem gewissen Punkt schneiden, um sogleich wieder auseinanderzustreben." Es bleibe nicht mehr als eine "schwache Erinnerung": "Und Erinnerungen sind nicht sonderlich zuverlässig." Wirklichkeit und Fantasie verbinden sich zu einem Gespinst und Gewebe.
In der anderen Erzählung erzählt Murakami von Jazz. Er denkt an Charlie Parker – "Bird ist wieder da." Auch hier werden neue Schwebezustände zwischen Wunsch, Traum, Fantasie und Wirklichkeit vorgestellt: "Er kann doch nicht tot sein? Denn man hört nichts davon, dass er gestorben sei. Aber, wendet jemand ein, dass er noch lebt, auch nicht." Das, was "wirklich so passiert" sei, ist natürlich nur eine erdachte Wirklichkeit, denn der 1955 verstorbene Parker konnte acht Jahre später mitnichten ein neues Album aufnehmen. Der Erzähler verfasst eine Geschichte, die er einer Literaturzeitschrift anbietet – "Charlie Parker Plays Bossa Nova". Der Herausgeber veröffentlicht die Fantasie als Musikkritik. Sehr viel später – nämlich 15 Jahre –, der "harmlose Jugendstreich" ist fast vergessen, entdeckt der Verfasser der "fiktiven Musikkritik" die Schallplatte, die es nie gegeben hat: "Die Platte in der Hand, stand ich sprachlos da. Etwas irgendwo tief in meinem Inneren war wie betäubt. Ich sah mich um. War ich wirklich in New York? Ja, ich stand definitiv in einem kleinen Laden für gebrauchte Schallplatten in der Innenstadt von New York. Weder hatte ich mich in eine illusionäre Welt verirrt, noch hatte ich einen superrealistischen Traum." Was folgt darauf? Der Erzähler begegnet Charlie Parker in einer Traumwelt, vernimmt ein Musikstück, "das Bird im Traum für mich spielte", an dessen klingende Gegenwart er sich erinnert, ohne sagen zu können, "wie lang das Stück dauerte": "Ich weiß nur, dass es bis in mein Innerstes drang und meine Seele berührte. Es gibt Musik auf der Welt, die, hat man sie einmal gehört, das Gefühl für den eigenen Körper verwandelt." Zugleich hört er Charlie Parker über die Erfahrung des Todes sprechen, über die Ewigkeit, in der jede Zeit verloren gehe. Sterbend habe er an Beethovens Klavierkonzert Nr. 1 gedacht, das er immer geliebt habe: "Da liege ich, Charlie Parker, im Sterben und summe im Geist ausgerechnet diese Melodie von Beethoven. Und auf einmal wurde alles dunkel. Als wäre der Vorhang gefallen." Schließlich bedankte sich Bird für die ausgedachte Platte, das er – zumindest in der Fantasie eines anderen – noch habe Bossa Nova spielen dürfen: "Dann verschwand er. Zuerst verschwand das Saxofon, dann das Licht, das von irgendwoher ins Zimmer fiel, und zum Schluss war auch Bird nicht mehr da. … Sie glauben mir wohl nicht? Das sollten Sie aber, denn es ist wirklich so passiert."
Geschichten wie diese – zwischen Fantasie und Wirklichkeit, realistisch erzählt und zugleich betörend unwirklich – hat Haruki Murakami geschrieben, sehr kunstvoll, aber nicht gekünstelt. Immer wieder wendet er sich der Welt der Musik zu. Er komponiert auf seine Weise Erzählungen, entwirft ganz eigene Fantasieräume und -gestalten. Zugleich begegnet uns der japanische Schriftsteller als ein Autor, der an die Schönheit und an den Zauber der Musik glaubt. Wir wollen hoffen, dass Murakami uns noch viele beglückende literarische Fantasiestücke schenken möge.
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