Der Mensch in einer grenzenlosen, leeren Welt
Etwas bieder wirkt der Titel auf den ersten Blick. Hier hat jemand etwas für Grenzen übrig und beschwert sich über deren Abschaffung, so meint man. Aber Staatengrenzen sind hiermit gar nicht so gemeint. Und wer sich vom "uncoolen" Titel abschrecken lässt, verpasst einen ungewöhnlichen, kritischen Blick auf die heutige menschliche Existenz.
Entgrenzung ist dem Autorenduo zufolge das zentrale Phänomen der Gegenwart. Grenzen lösen sich in der Alltagswelt der kapitalistischen Dienstleistungsgesellschaft immer weiter auf. So beispielsweise die Unterschiede und räumliche Grenzen zwischen Stadt und Land, die Grenzen des Käuflichen, die Grenzen zwischen Maschine und Mensch - und auch zeitlich, indem sich Zukunft und Vergangenheit in eine permanente Gegenwart auflösen.
Werner Bätzing, Professor für Kulturgeographie, legt dar, wie es geschichtlich zu der Entgrenzung kommen konnte: Dreimal setzte die Fortschrittsdynamik an, zuerst in der griechischen Antike und schließlich in der Renaissance, in der sie sich durchsetzen konnte. Vorläufiges Ergebnis dieser Dynamik war die Industrielle Revolution, die jedoch eine Reihe von Abstraktionsleistungen zur Voraussetzung hatte. Bätzing stellt zehn Veränderungen dar, die dafür nötig waren und unabhängig voneinander abliefen. Statt konkreter Ziele und Bedürfnisse trat eine Orientierung an abstrakten, funktionalen Werten auf. So zum Beispiel an Produktivität und Arbeitsethik. Diese Position unterscheidet sich von Ansätzen, die eine Ursache allein für den fundamentalen Umbruch verantwortlich machen.
Später wurde aus der Industrie- eine Dienstleistungsgesellschaft, die schließlich eine grenzenlose Dynamik aufweist. Mit dieser Tertiarisierung dringt die Wirtschaft in nahezu alle Lebensbereiche vor.
Auch zum Verschwinden des Raums und der Auflösung von Stadt und Land sowie dem Verhältnis der Gesellschaft zur Natur liefert Bätzing aufschlussreiche Beiträge. Evelyn Hanzig-Bätzing, Dozentin für Philosophie, stellt dar, wie sich die Geistesgeschichte entsprechend entwickelt hat. Auch die Grenzen zwischen Kindheit und Erwachsenenalter sind ein kapitelgroßes Thema. Die Anforderungen an Erwachsene dringen auch und immer tiefer in die eigentliche Schonzeit der Kindheit und des Jugendalters vor. Folgen sind u.a. Dauerstress, dem Kinder ausgesetzt sind, der immer frühere Konsum psychoaktiver Substanzen, ähnliche Krankheiten wie bei Erwachsenen und "Hyperaktivität", die "eine gesunde psychische Reaktion (…) auf eine bloß noch passiv erlebbare Lebenswelt" (S. 335) ist.
Folge dieser Entgrenzungen ist eine Weltsicht, die darauf abzielt, eine Welt zu schaffen, die steril, sicher, ohne Leiden, ohne Schmerz ist, in der alles machbar und beherrschbar ist. Dass dies nicht funktionieren kann, lehrt eigentlich die menschliche Erfahrung. Etwas bleibt immer, dass sich der Kontrolle entzieht, ein Rest, die Differenz zwischen Entwurf und Realität. Die menschliche Existenz wird von verselbstständigten gesellschaftlichen Selbstzwecksystemen dominiert, die Abstraktes zum Ziel haben, aber niemandem mehr konkret nützen.
Der Mensch, seine Psyche und Seele bleiben dabei auf der Strecke. In letzter Konsequenz könnte diese Entwicklung die Selbstzerstörung des Menschen bedeuten, denn das Gesamtsystem ist nach Meinung der Bätzings weitaus labiler als gedacht. Sie rufen daher zur Verweigerung der unmittelbaren Verfügbarkeit und ökonomischen Verwertbarkeit auf, um in der Widerständigkeit Möglichkeitsräume für Alternativen zu schaffen, die auf "wechselseitiger Anerkennung der Andersheit" (S. 422) gründen. Wie die allerdings abseits von diesen abstrakten Anforderungen aussehen könnten, bleibt leider im Dunkeln. Trotzdem ist das auch haptisch ansprechende Buch ein wichtiger Beitrag zum Verständnis unserer Welt - nur scheint er leider weder in politischen Bewegungen noch in wissenschaftlichen Kreisen ausreichend rezipiert zu werden.
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