Linksterrorismus und fallende Mauern
Dieses Jahr sind es zwanzig Jahre, dass die Mauer gefallen ist, aber als sie noch stand, glaubte keiner an ein so schnelles und baldiges Ende. Die beiden Künstler Bilal/Christin, ersterer aus Jugoslawien stammend und letzterer aus Frankreich, haben in ihrem Werk die Aufhebung der Trennung Europas dennoch bereits sehr früh antizipiert: "Der Schlaf der Vernunft", der im Todesjahr Francos, 1975, entstand und "Treibjagd", das 1983 erstmals publiziert wurde, nehmen beide die Geschichte Europas zur Grundlage und weisen doch weit über die engen Grenzen der Realität durch ihre phantastische Erzählweise hinaus. Dies sei auch eine Bedingung ihrer gemeinsamen Arbeit gewesen, dass die phantastischen Elemente nicht verloren gehen sollten, auch wenn sie sich an historischen Vorlagen orientierten.
Im ersten Werk wollen faschistische Terroristen die Rückkehr der Demokratie nach Spanien verhindern, doch sie haben nicht mit dem wilden Haufen überlebender Republikkämpfer gerechnet, die sich ihnen entgegenstellen. Im Spanien der 70er bekriegen sich zwei Seniorengruppen, die eine der anderen immer dicht auf den Fersen, doch stets eine Spur zu spät. Erst als die Republikaner - übrigens Internationalisten aus aller Herren Länder - zu denselben Mitteln wie ihre Erzfeinde greifen, können sie den Terroristen Einhalt gebieten. Doch der Preis, den sie dafür bezahlen müssen ist sehr hoch, zu hoch. Im Altertum sprach man von einem Pyrrhussieg, denn abgesehen von der Moral, die sie verlieren, überlebt nur derjenige, der alle zusammengerufen hatte, um gegen die Faschisten zu kämpfen und eine Frau, die bereits zuvor ihre eigenen Wege gegangen war. Pierre Christin erläutert in dem Interview, das man auch in vorliegender Ausgabe findet, dass er sich vor allem gegen Linksterrorismus der 70er verwehren wollte, dass er nie Sympathie gehabt habe für Gewalt gegen demokratische Gesellschaften, wie sie etwa die französische Action directe, die deutsche RAF oder die italienischen Brigata rossa ausübten. Doch die antifaschistischen Senioren kennen keinen anderen Weg, sie haben keine andere Wahl, als sich ihren Gegnern auf dieselbe brutale Weise entgegenzustellen. Dabei sterben immer wieder Unschuldige, und am Ende sieht das Pritchard, der Erzähler, auch ein, dass sie sich in ihren Methoden zu sehr ihrem Feind angeglichen hätten. Doch auf seinen Schultern lastet nun, als einzigem Überlebenden, die ganze Schuld.
Um "Schuld" geht es auch in "Treibjagd", dem 1983 spielenden Comic der beiden kongenialen Künstler. Der etwas unbeholfen wirkende Übersetzer und Protagonist bekommt bei einer Treibjagd auf einen Bären ausgerechnet diesen persönlich vor die Linse und drückt, angefeuert durch die anderen Anwesenden, sofort ab. Die im Schneegestöber tappende Figur kippt sofort um, doch wie sich herausstellt, handelte es sich gar nicht um den Bären.
Führende Parteigenossen aus den Ländern des Warschauer Paktes treffen sich in einer polnischen Datscha, um gemeinsam auf die Jagd zu gehen und sich ein bisschen miteinander zu betrinken und harmlos zu plaudern. Doch geht es tatsächlich nur um die Jagd? In Wirklichkeit geht es vielleicht doch um etwas viel Wichtigeres, nämlich die Nachfolgerregelung für Wassili Alexandrowitsch und der junge Student und Übersetzer beginnt bald zu begreifen, dass in diesem Spiel um die Macht auch ihm eine Rolle zugeteilt wurde, allerdings ohne sein Wissen. Die Atmosphäre der Ausweglosigkeit einer kommunistischen Diktatur wird von Bilal wundervoll bildnerisch umgesetzt, durch die Architektur des Hotels in dem sie sich treffen, die unendlichen Wälder und Eisenbahnfahrten durch den Schnee entsteht eine wahrhafte Beklommenheit, der man sich als Leser bald nicht mehr entziehen kann. Es gab wohl tatsächlich keine Unschuldigen mehr in Diktaturen, denn die, die es noch waren, wurden von den anderen schamlos ausgenützt und missbraucht und so - wenn auch unabsichtlich - ebenfalls zu Schuldigen. Das erinnert natürlich auch etwas an Kafka, der seine Werke bekanntlich vor dem Entstehen des Sowjetkommunismus oder Stalinismus schrieb. Aber auch Stanislaw Lem, das eigentliche Vorbild Bilals, kommt nicht zu kurz, etwa wenn Vera Nikolajewna Tretjakowa in den Erinnerungen Alexandrowitschs auflebt oder die Sowjetgeschichte in kurzen Atemzügen nacherzählt wird, mag manchem Leser klar werden, wie absurd - und leider doch für sehr viele Menschen sehr real - diese Regime waren. Ob sich am Ende die Reformer oder Hardliner durchsetzen, darauf hat auch dieser Comic eine sehr raffinierte Antwort parat.
Zweifellos haben die beiden Ko-Autoren mit ihren Werken neue Wege in der Comiclandschaft beschritten, wie es vor ihnen noch keiner gewagt hatte. Der politische Kontext mag manche vielleicht stören, aber er regt auch an und wer das nicht will kann immer noch ausschließlich die phantastischen Bilderwelten von Bilal genießen, der es versteht ein eigenes Universum zu erschaffen, das dennoch nicht völlig losgelöst ist von der Gegenwartswelt und dabei ohne ideologische Zwangsjacken auskommt. Wenn man bedenkt, dass er fast zur selben Zeit auch noch die "Geschäfte der Unsterblichen" im Alleingang herausbrachte, ist man schnell bereit, ihn für ein Genie zu halten. Natürlich hat nicht alles dieselbe Qualität, weder was die beiden alleine, noch das was sie gemeinsam produziert haben, doch in vorliegendem Sammelband kann man ganz gut sehen, wie die beiden wohl begabtesten Comicartisten sogar das Ende des Kalten Krieges vorwegnahmen. Und das in satten Sepia, Gelb und anderen eruptiven Farbtönen, besonders natürlich Rot, das sich in einer satten Bluttönung über die Erinnerungen Alexandrowitschs und seine Träume legt…kurz, ein Comicalbum besser als Cinemascope!
Vorliegender Sammelband beinhaltet die beiden im Titel genannten Werke plus ein eigens für diese Ausgabe erstelltes Epitaph, das die beiden Künstler nach einer Re-Lektüre ihrer beiden Comics eigens für diese Ausgabe erstellt haben. Der Comic-Band ist in einem hochwertigen Schutzumschlag gebunden und das Papier Hochglanz. Als zusätzlichen Höhepunkt erwartet den Leser ein Interview von Benoit Peeters mit Enki Bilal und Pierre Christin. Ein Feuerwerk der Gefühle in einem Bilderreigen aus einer Zeit, als es die Mauer und die sie trennenden Ideologien noch unverdünnt gab und diese die Phantasie zum Blühen brachte, wie einst die Erschaffung der Welt die Erzählungen der Bibel. Der Stellenwert dieser beiden Comics ist in ihrem Genre zumindestens ebenso hoch einzuschätzen wie die Bibel als Mutter aller Bücher.
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