Nichts ist für die Ewigkeit - nicht einmal der Tod
Wenn das Banale ausbleibt - José Saramago geht in "Eine Zeit ohne Tod" dem Aussetzen des Sterbens auf den Grund. Ein außergewöhnlicher Totentanz.
Noch in der Silvesternacht fielen die Todkranken, schwer Verunglückten und die Alten, deren Zeit herangerückt war, dem Lauf der Dinge zum Opfer, jedoch: "Am darauffolgenden Tag starb niemand." Mit diesem schlichten Satz beginnt Saramagos neuester Roman, in dem aus unerfindlichen Gründen nicht mehr gestorben wird - in einem Land, welches vielleicht wieder einmal Portugal ist oder auch nicht.
Was für die einzelnen Bürger zunächst wie ein Geschenk daherkommt, verwandelt sich jedoch schnell in eine bittere Erkenntnis: Das verheißene ewige Leben, die fröhlich begrüßte Unsterblichkeit für jeden ist keineswegs gleichbedeutend mit der sagenhaften Unverletzlichkeit des Drachentöters Siegfried und führt auch nicht zur Genesung der Schwerkranken und Verletzten. Das unendliche Dasein hat vielmehr zur Folge, dass die Versehrten und Hoffnungslosen in einem Dämmerzustand zwischen Leben und Tod schweben, ohne von der Welt gehen zu können, da der Tod seinen Dienst verweigert.
"..., es ist alles unter Kontrolle, Außer der Rentenfrage, Außer der Todesfrage, Majestät, falls wir nicht wieder sterben, haben wir keine Zukunft mehr." Was zunächst so abstrakt und paradox daherkommt, fügt sich in Saramagos neuem Roman wieder einmal zu einer bis dato nie erlebten nationalen Krise. Der portugiesische Romancier geht hier der Frage nach, welche Folgen das ewige Leben für eine Gesellschaft hat. Wenn Friedrich Nietzsche in seinen Betrachtungen "Menschliches, Allzumenschliches" unter den Menschen "keine größere Banalität als den Tod" zu erkennen glaubt, versucht Saramago dies hier zu widerlegen und die gesellschaftliche Funktion des alltäglichen Sterbens deutlich zu machen. Er greift dabei auf fabelhafte Weise die aktuellen Debatten um die Pflege alter Menschen, die Wahrung der Würde des Lebensabends und der Sterbehilfe auf, berücksichtigt aber auch ganz praktische Fragen für die verschiedenen wirtschaftlichen und sozialen Einrichtungen eines Staates angesichts des ausbleibenden Entschlafens.
So stehen zum Beispiel die Versicherer vor dem Problem, keine Abnehmer mehr für ihre Lebensversicherungen zu finden. Die Bestattungsbranche ist unter solchen Bedingungen gar dem Niedergang geweiht. Auch die staatliche Rentenversicherung steht vor dem Kollaps, wenn sich der Zustand der abnehmenden Einzahler und der unaufhaltsam wachsenden Empfängerzahl etabliert. Vor dem Zusammenbruch stünde schließlich selbst die Kirche, ja jede Religion, fußen diese doch auf dem Gedanken der Wiedergeburt, der Reinkarnation, des Neubeginns, die doch sämtlich den Tod des Einzelnen voraussetzen. Welche Legitimation hat noch die Anrufung eines Höheren oder Höchsten, wenn sich dieser als unwillig, den Tod zuzulassen oder gar als ohnmächtig gegenüber dem Tod herausstellt.
Die halb lebend, halb tot im Nichts Dahindämmernden fallen ihren pflegenden Verwandten zunehmend zur Last. Auch die Krankenhäuser und Altenpflegeeinrichtungen ächzen unter der Last der zum Stillstand gekommenen Fluktuation. Es taucht die Frage auf, ob man dem Tod nicht irgendwie nachhelfen kann. An dieser Stelle überrascht Saramago. Bisher wirkten die Handlungsorte seiner dystopischen Geschichten isoliert und von der übrigen Welt abgeschieden. In seinem Roman "Das steinerne Floß" trennte er gar die spanisch-portugiesische Halbinsel durch eine Naturkatastrophe vom Festland und ließ sie auf das Meer hinaustreiben - wohl in direkter Anlehnung an Thomas Morus "Utopia". In "Eine Zeit ohne Tod" übernehmen die Nachbarstaaten jedoch eine zentrale Rolle, da in ihnen der Tod noch seiner gewohnten Arbeit nachgeht. Saramago entwirft eine landesweit tätige "Maphia", die im Laufe seiner Erzählung sogar mit staatlicher Deckung die Todkranken und Schwerverletzten über die Grenze bringt, so dass diese dort sterben können. Schwebte dem portugiesischen Autor hier schon ein Sterbetourismus à la Dignitas vor Augen?
Wie Saramago in seinem neuesten Werk den Fragen der sozialen Bedeutung des Todes nachspürt und die sich auftuenden menschlichen Abgründe in Anbetracht des in Aussicht gestellten ewigen Daseins erforscht, zeigt einmal mehr die Weitsichtigkeit des Portugiesen. Nicht umsonst erhielt er 1998 den Literaturnobelpreis. Das Komitee lobte ihn damals für sein "umsichtiges und behutsames Einfühlungsvermögen" sowie seine "scharfsinnigen Überlegungen". Aber auch wie er jede Scharfsinnigkeit an ihre Grenzen führe, faszinierte die Laudatoren. Dieses Spiel aus These, Antithese und Synthese vollführt er wieder in Perfektion und insofern erinnert "Eine Zeit ohne Tod" auch an Vorgängerromane wie "Die Stadt der Blinden" oder "Die Stadt der Sehenden".
Sein neuestes Werk nimmt jedoch eine überraschende erzählerische Wende. Nach siebenmonatiger Dienstverweigerung meldet sich der Tod mit einem Brief bei der Regierung und kündigt die Wiederaufnahme seines Wirkens an. Zukünftig sollen die Todgeweihten eine Woche vor Ablauf ihrer Lebensfrist einen violetten Brief von ihm erhalten, der ihr Ableben in exakt einer Woche ankündigt. Den Adressaten will der Tod so die nötige Zeit einräumen, sich gebührend von der Welt zu verabschieden und die notwendigen Vorkehrungen für ihr Ende zu treffen.
Ab hier weicht die Erzählung fundamental von den dystopischen Vorgängern ab, denn Saramago wechselt nun in die Perspektive des Todes. Dabei strickt er die philosophische Debatte um die Größe und Absolutheit des Todes geschickt in die Erzählung ein. Diese Debatte bindet er auf raffinierte Weise schon in die Bezeichnung der todbringenden Gestalt mit ein: diese ist weiblich und schreibt sich klein: "die tod". Ihre Reichweite ist auf die Menschen in besagtem Land beschränkt, und selbst dort scheint ihre Macht an Grenzen zu geraten. Aus unerfindlichen Gründen kommt eines der täglichen Todesschreiben, welches an einen Cellisten gerichtet ist, immer wieder zurück.
Stellt hier ein einzelner die Macht von "tod" in Frage oder fechtet sie gar an? Ihr bleibt keine Wahl, als den Gründen ihres Machtverlusts nachzuspüren. Dabei vollführt sie einen Totentanz um das Menschsein und die Kunst des Lebens. Angekommen im Haus des Cellisten "... betrachtete (sie) das auf dem Stuhl aufgeschlagene Notenheft, es war die Suite Nummer sechs, Opus tausendzwölf in D-Dur von Johann Sebastian Bach, komponiert in Köthen, und sie brauchte nicht Musik studiert zu haben, um zu wissen, dass diese Suite, ebenso wie Beethovens Neunte Symphonie, in der Tonart der Freude, der Einigkeit unter den Menschen, der Freundschaft und Liebe geschrieben war. Da passierte etwas noch nie Dagewesenes, etwas Unvorstellbares, tod ließ sich auf die Knie fallen..." Sie stößt auf ihrer Erkundungsreise an die Grenzen ihrer selbst und so endet der Roman, wie er begonnen hat. Mit dem schlichte Satz: "Am darauffolgenden Tag starb niemand."
Hedonismus zwischen L.A. und N.Y.C.
Ein Text über die hedonistischen Siebziger, kolumnenartig zu einem Roman zusammengefasst: Sex&Rage
Sex & RageDrama in Maine
Sullivans sechster Roman spielt wieder in New England, in Maine und taucht tief in Geschichte und Gegenwart ab ...
Die Frauen von MaineEin langer Abschied von der Welt
Eine berührende Geschichte über den Abschied von der Welt, über die Demenz und ihre Phasen – und über die Liebe zwischen Mutter und Tochter, die bis zum Lebensende andauert.
Solange wir schwimmen„Ein in mehrfacher Hinsicht bemerkenswertes Werk mit bedeutendem Inhalt“
Vor einhundert Jahren erschien Thomas Manns Der Zauberberg. Mit dem Nobelpreis wurde es nicht belohnt, zum Ärger seines Autors.
Der Zauberberg, die ganze GeschichteEcho eines Verschwindens
Eine berührende, zarte Geschichte über das plötzliche Verschwinden eines liebgewonnenen Menschen.
Wendeschleife