Howard Zinn: Eine Geschichte des amerikanischen Volkes

Die ungeschönte Geschichte des amerikanischen Volkes

"Allein der Gedanke an Amerika lässt mich zittern und bibbern und bereitet mir Albträume." (Josephine Baker) Das lange Zeit vergriffene Werk zur amerikanischen Geschichtsschreibung von unten erschien erstmals 1980 und dann mit ergänzenden Kapiteln immer wieder bis 2003. Der März Verlag hat – wohl zum besten aller möglichen Zeitpunkte – den Klassiker in einer wunderbaren gebundenen Ausgabe mit einem sehr ansprechenden und modernen Cover neu aufgelegt und macht ihn so endlich wieder neuen Leserschichten zugänglich.

Eine neue Art der Geschichtsschreibung

In der vorliegenden Ausgabe, die die Geschichte des amerikanischen Volkes bis zum Millennium nachzeichnet, befindet sich auch ein Nachwort von Howard Zinn, der 2010 verstarb, zur Ausgabe von 2003, in dem er nochmals seinen Zugang zur Geschichtsschreibung plausibel erklärt. Zu lange schon hätten die Geschichtsbücher die Entscheidungen von "großen" weißen Männern nacherzählt, aber er wollte etwas grundsätzlich anderes machen. Seine Geschichte des amerikanischen Volkes beschäftigt sich nämlich nicht mit den "Erlösern", Stars, Anführern, Experten oder anderen Gaunern, sondern mit den einfachen Menschen – den Soldaten, nicht den Generälen, den Native Americans, den Black Panthers oder dem SNCC.

Im Mittelpunkt seiner Erzählung stehen die 99 %, die sich gegen die 1 % (die ein Drittel des Reichtums der Nation besitzen) wehren und Widerstand leisten. Und wenn es etwas Tröstliches an seiner Bilanz gibt, dann die Tatsache, dass es diesen Widerstand immer gegeben hat, von Anfang an, auch wenn er zumeist totgeschwiegen wurde. Denn auch in den USA gab es eine Arbeiterbewegung, Gewerkschaften und Bürgerrechtsbewegungen, die sich nichts gefallen ließen. Trotz der Einheitspartei Demokraten-Republikaner, die stets nur die Interessen der Reichen vertraten, war dieser Widerstand möglich: "die enorme Fähigkeit scheinbar hilfloser Menschen, Widerstand zu leisten, vermeintlich zufriedener Menschen, Veränderungen einzufordern. (…) die Hoffnung aufrechtzuerhalten, dass Überraschungen möglich sind". Eine Geschichtsschreibung, die die Erinnerung an den Widerstand der Menschen aufrechterhält und zeigt, dass es noch viele Überraschungen geben wird und geben kann.

Empire: Kriege gegen Kinder

Die Verfehlungen der amerikanischen Außenpolitik sind legendär. Und Howard Zinn nennt auch einen Grund dafür: nämlich, dass sowohl Republikaner als auch Demokraten die grundsätzlichen Ungerechtigkeiten des amerikanischen Systems unangetastet ließen. Selbst Bill Clinton, dem man "Change" zugetraut hätte, setzte die Politik seiner Amtsvorgänger auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fort: Rüstungsausgaben erhöhen und Sozialausgaben reduzieren, um so einen Budgetausgleich zu erreichen. Auch die Liste der Vergehen seiner außenpolitischen Administration ist lang (Somalia, Ost-Timor, Ruanda etc.), aber die Erhöhung des Rüstungsbudgets von 250 Milliarden um weitere 50 Milliarden wurde ausgerechnet von diesem demokratischen Präsidenten ermöglicht. Zu einem Zeitpunkt, als die Weltgeschichte einen ihrer größten Wendepunkte – eine Zeitenwende – erreicht hatte und sich die Chance bot, dass sich in Russland ein demokratisches System entwickeln könnte. Stattdessen fand auch dort die Anhäufung gigantischen Vermögens in den Händen weniger statt, ganz nach dem Vorbild USA, der damals mächtigsten Nation der Welt.

Jede dieser außenpolitischen Eskapaden, die wohl unter Druck des militärisch-industriellen Komplexes – ein Begriff des US-Präsidenten Eisenhower – realisiert wurde, bedeutete aber vor allem eines: den Krieg gegen Kinder. "Jedes Gewehr, das hergestellt, jedes Kriegsschiff, das zu Wasser gelassen, jede Rakete, die gezündet wird, bedeutet im Endeffekt einen Diebstahl an denen, die hungern und nichts zu essen bekommen, an denen, die frieren und keine Kleider bekommen", zitiert Zinn Eisenhower im Original. Ein Krieg gegen die Kinder im Ausland, aber vor allem auch ein Krieg gegen die eigenen Kinder.

Geburt einer Nation aus einem Genozid

Howard Zinn erzählt in einer aufregenden, aber unaufgeregten Sprache von dem Völkermord an den Ureinwohnern, der gerne als "Umsiedelung" verharmlost wurde. Stets verstanden es die Gründerväter, die Interessen der Reichen und ihren Hunger nach Land mit schönen Parolen zu kaschieren, und wenn sich Widerstand regte – etwa von den Native Americans oder den Schwarzen – wurde als wirksamstes Instrument gegen das Aufbegehren der Rassismus eingesetzt. Die horrible Behandlung der eigentlichen Amerikaner und der zur Arbeit gekidnappten Afrikaner brachte den weißen Herren ein riesiges Land und Arbeitskräfte zum Nulltarif. Beides gratis. Dadurch konnte ein Kapital akkumuliert werden, das vor allem die WASPs (White Anglo-Saxon Protestants) begünstigte und so genau die Ungleichheit schuf, die auch heute noch in den USA besteht.

Eine Pflichtlektüre, die an jeder Schule gelernt werden sollte, gerade was die Epoche der Gründung des Landes betrifft. Der Perspektivenwechsel und der Blick auf die Meinungen einfacher Menschen, die Zinn ebenso zitiert wie die Klassiker der Historiographie oder Politiker, Schriftsteller und Bürgerrechtler, machen sein Werk zu einer anspruchsvollen Lektüre, die Geschichte begreifbar und nachvollziehbar macht. Sklaven, Schwarze, Native Americans, Menschen aus der Arbeiterklasse und Eingewanderte kommen endlich zu Wort und zeigen, dass es auch ein anderes Amerika gibt. "Das Werk Howard Zinns hat buchstäblich das Gewissen einer ganzen Generation verändert. Und die aus dieser großartigen Arbeit hervorgegangene Serie einer `Geschichte von unten´ hat ein neues Verständnis dafür geliefert, wer wir sind und wofür wir kämpfen sollten", meinte Noam Chomsky zu Howard Zinns Klassiker, der nun im März-Verlag in einer wunderschön gestalteten Ausgabe neu aufgelegt wurde.

Fakten, Fakten, Fakten … vs. Mythos

Howard Zinn nennt unbequeme Dinge beim Namen und kennt auch die Zahlen. Es sind obszöne Zahlen, die einem die Haare zu Berge stehen lassen. So erwähnt er etwa, dass die USA zwar nur 5 % der Weltbevölkerung ausmachen, aber dennoch 30 % der Ressourcen verbrauchen. Als Folge der Steuerstruktur hätten die Reichen eine Billion hinzugewonnen und 1995 schon 40 % allen Vermögens der Nation besessen. 400 der reichsten Familien im Jahr 1982 hatten insgesamt 92 Milliarden besessen, während es nur 13 Jahre später, 1998, schon 480 Milliarden gewesen seien. Dabei zitiert er übrigens das Wirtschaftsmagazin Forbes. Dennoch sei es unmöglich, in den USA eine allgemeine Krankenversicherung für alle durchzusetzen, obwohl das amerikanische Volk das eigentlich wolle. Auch eine progressive Einkommenssteuer wurde zurückgedreht, obwohl schon ein paar Prozent genügen würden, ein gerechteres Sozialsystem zu etablieren.

Aber Howard Zinn erzählt die Geschichte Amerikas von Anfang an und zeigt, dass die sog. amerikanische Revolution oder später der Bürgerkrieg die wesentlichen Eigentumsrechte immer unangetastet ließ und es immer dieselben paar Familien waren, die sich auf Kosten der Nation bereicherten. Auch die "Befreiung" der Sklaven durch einen sklavenhaltenden Präsidenten ist ein weiterer Mythos, der das System aufrechterhält. In Wirklichkeit herrschte bis in die Sechziger des 20. Jahrhunderts eine Segregation vor, die an Apartheid grenzte – ganz abgesehen von den Lynchmorden, die es immer noch gab. Besonders erschütternd und gleichzeitig beschämend sind die Kapitel über Kolumbus, "Eine Art Revolution" über die Gründung, die Umsiedelung der "Indianer", den Vietnamkrieg, die Unterdrückung der Frauen, den Gefängnisaufstand von Attica, die CIA-Operation in El Salvador und anderen Ländern Südamerikas.

Aber immer wieder, von Anfang an, zeigt Howard Zinn, dass es Widerstand gab, dass die Menschen sich vereinigten, Solidarität zeigten und sogar in den USA durch Generalstreiks ihre eigentliche Macht bewiesen. Es besteht also weiterhin Hoffnung auf "Change" und das Ende der Albträume für Josephine Baker – würde sie noch leben … Eine Pflichtlektüre also nicht nur für Schulen und Universitäten, sondern für alle, die heutzutage noch mitreden möchten. Eine Geschichtsschreibung, die die Erinnerung an den Widerstand der Menschen aufrechterhält und zeigt, dass es noch viele Überraschungen geben wird und geben kann …

Eine Geschichte des amerikanischen Volkes
Sonja Bonin (Übersetzung)
Eine Geschichte des amerikanischen Volkes
927 Seiten, gebunden
Originalsprache: Englisch
März 2025

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