Wenn alle Liebe nicht hilft
"Ein wenig Leben" spielt in New York und handelt von der lebenslangen Freundschaft von vier Männern, die sich im College kennengelernt haben. Willem, der kellnert, eine Karriere als Schauspieler anstrebt und berühmt wird, Malcolm, ein Architekt mit einem übermächtigen Vater, JB, der Künstler, und Jude, ein Anwalt, der auch einen Master in reiner Mathematik macht – was die vier trennt und verbindet, davon handelt dieses Buch, in dem jedoch noch viele andere Charaktere auftreten. Das Wissen und die Erzählkraft der 1974 auf Hawaii geborenen Hanya Yanagihara ist stupend.
Dieser zu Recht viel gelobte und 960 Seiten dicke Roman ist schon allein deswegen beeindruckend, weil die Autorin es schafft, über so viele Seiten hinweg Intensität und Spannung aufrecht zu erhalten. Eine Herkulesarbeit vollbrachte auch der Übersetzer Stephan Johann Kleiner.
Jude ist bei Brüdern im Kloster aufgewachsen, wurde missbraucht, leidet unter Schmerzattacken, ritzt sich, zudem hinkt er. Was genau dazu geführt hat, dass er derart körperlich und seelisch beschädigt durchs Leben gehen muss, erfährt man zwar im Verlaufe der Geschichte, doch eigentlich will Jude nicht darüber reden, will die Misshandlungen, die er erlitten hat, nicht noch einmal durchleben. "Er wird sich daran erinnert fühlen, dass er eingesperrt ist, gefangen in einem Körper, den er hasst, zusammen mit einer Vergangenheit, die er hasst, und dass er beides niemals wird ändern können."
Nicht ändern kann er auch, dass er am liebsten keinen Sex hätte, sich jedoch dazu durchringt, weil er glaubt, es seiner Beziehung schuldig zu sein. "Doch er hatte Sex als etwas erfahren, das man so schnell wie möglich hinter sich brachte, mit einer Effizienz und Schroffheit, die an Brutalität grenzte, und wenn er spürte, dass Willem ihre Begegnungen zu verlängern suchte, begann er mit einer Entschiedenheit die Führung zu übernehmen, die Willem, wie ihm später bewusst wurde, fälschlicherweise für Leidenschaft halten musste." Dass solcher Sex letztlich für beide unbefriedigend war, ist milde ausgedrückt. Als Ausgleich ritzt sich Jude immer öfter, so versucht er seine Scham abzumildern, sich zu bestrafen und zu reinigen.
Willem, Malcolm und JB durchleben persönliche Katastrophen, Drogensucht (Crystal Meth), Schaffenskrisen und Erfolg, doch "Ein wenig Leben" ist hauptsächlich ein Roman über den von Dämonen heimgesuchten Jude St. Francis, der von seinen Freunden geliebt und geschätzt wird und dem doch alle Liebe nicht hilft. Zu gross ist seine Scham über seinen verunstalteten Körper, zu sehr ist er im eigenen Schmerz gefangen, zu gross ist seine Angst, nicht zu genügen. Keinesfalls will er anderen zur Last fallen, jemandem wirklich zu vertrauen, schafft er nicht, auch sich selber nicht. Er ist so anders als alle andern und möchte unbedingt so sein wie sie.
Was mich an diesem New-York-Buch packt, sind Szenen, die mich seit der Lektüre begleiten. Diese U-Bahnfahrt, die JB schildert, zum Beispiel: "Er stieg in der Canal Street ein und sah zu, wie der Wagen sich an jeder Station füllte und leerte und eine Mischung unterschiedlicher Völker und Ethnien sich alle zehn Häuserblocks zu neuen provokanten und unwahrscheinlichen Konstellationen zusammensetzte: Polen, Chinesen, Koreaner, Senegalesen; Senegalesen, Dominikaner, Inder, Pakistaner; Pakistaner, Iren, Salvadorianer, Mexikaner; Mexikaner, Sri Lanker, Nigerianer und Tibeter – vereint allein dadurch, dass sie noch nicht lange in Amerika waren und denselben erschöpften Ausdruck auf den Gesichtern trugen, diese Mischung aus Entschlossenheit und Resignation, die man nur bei Immigranten findet."
Und gerade noch ein Beispiel: "Das Restaurant war voller Geschäftsleute desselben Typus, die ihren Wohlstand und ihre Macht über den Schnitt ihrer Anzüge und die Subtilität ihrer Armbanduhren kommunizierten: Man musste selbst reich und mächtig sein, um den Inhalt der Botschaft zu verstehen. Für die anderen waren sie nur graue Männer in grauen Anzügen."
Was mir "Ein wenig Leben" wertvoll macht, sind auch die hochdifferenziert geschilderten Charaktere, denen in ihrer überwiegenden Mehrheit eigen ist, das Leiden anderer zu spüren und sich nicht abzuwenden, im Gegenteil, sich dem leidenden Jude zuzuwenden. Dieser schätzt dies zwar, kann es jedoch kaum glauben, fühlt sich immer wieder verunsichert, unternimmt einen Selbstmordversuch, begreift selber nicht, wie ihm geschieht. Nicht jedem kann geholfen werden, nicht jede Vergangenheit überwunden werden.
Ausgesprochen spannend und anregend ist auch der Scheinwerfer auf die Jurisprudenz. Jude arbeitet zuerst im Büro des Staatsanwalts, wechselt dann aber die Seiten, sehr zum Missfallen seines Adoptivvaters, eines Jura-Professors. "Die Moral hilft uns dabei, die Gesetze zu formulieren, aber sie hilft uns nicht dabei, sie anzuwenden." Und auf die Schauspielerei: "Die Schauspielerei war eine Form der Täuschung, und sobald man aufhörte zu glauben, dass man es konnte, taten es auch alle anderen."
Eine besonders enge Freundschaft verbindet Jude mit Willem, der es gar nicht fassen kann, dass der brillante Jude sich mit einer "so niederschmetternd langweiligen" Anwaltstätigkeit zufrieden geben kann und hätte ihn eher als Psychologen gesehen, "weil er so gut darin war, zuzuhören und seinen Freunden Trost zu spenden."
Es gehört zur menschlichen Tragik, dass wer andern helfen kann, häufig nicht imstande ist, sich selber zu helfen oder sich helfen zu lassen. An Selbstvorwürfen mangelt es Jude nicht – und auch seinen Freunden nicht. Sein Adoptivvater, als er das Ausmass von Judes Ritzen begreift, beschreibt die Schuldgefühle vieler ohnmächtiger Helfer: "Ich habe es toleriert. Ich habe mich entschieden zu vergessen, dass er es tat, weil es zu schwierig war, eine Lösung zu finden, und weil ich mich an dem Menschen erfreuen wollte, als der er von uns gesehen werden wollte, obwohl ich es besser wusste."
Ein beeindruckendes, grossartiges, wahrhaft mitreissendes Buch!
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