Die neugierige Naturliebhaberin – Ein Porträt aus der Nähe
Hanseatische Sensibilität hat vielleicht niemand in der Öffentlichkeit so sehr verkörpert wie Loki Schmidt. Sie war eine Lehrerin, wie sie sich Schüler zu jeder Zeit gewünscht hätten, umgänglich und aufgeschlossen, aber auch energisch, zugleich nüchtern und herzlich. Am 3. März 2019 wurde des 100. Geburtstages der 2011 verstorbenen Hamburger Ehrenbürgerin gedacht. Lothar Frenz, Biologe und Journalist, hatte die Freude, ja das große Glück, mit ihr an dem 2010 publizierten "Naturbuch für Neugierige" zu arbeiten. Die außergewöhnliche Frau namens Hannelore "Loki" Schmidt stellt er in diesem Buch auf eine behutsame, berührende Weise vor.
Manche Menschen wirken schon in jungen Jahren, als seien sie alt geboren worden – träge, bieder, behäbig, pedantisch und humorlos. Lothar Frenz begegnete 2009 einer gebrechlichen, aber geistig jungen Dame. Loki Schmidt brauchte längst einen Rollator, und sie konnte Loblieder auf diesen unverzichtbaren Weggefährten anstimmen. Sie war beim ersten Treffen mit dem Autor in Hamburg-Langenhorn 90 Jahre alt oder – wie gern ergänzte – "neunzigeinhalb". Frenz besucht sie vorbereitet, aber Loki überrascht ihn sofort. Auf die Frage, ob er rauchen würde, erwidert er, er habe sein ganzes Leben nur getrunken. Die Antwort hatte er sich vorher wohlüberlegt. Loki sieht in dieser Replik überhaupt nichts Erheiterndes. Sie ist "fassungslos" und fragt: "Sie haben es noch nicht einmal versucht?" Frenz erkennt später ihr "kommunikatives Geschick" darin, "sich der Erwartung zu widersetzen, aber dennoch zugewandt, neugierig und angemessen zu reagieren und damit den Gesprächspartner ausdrücklich ernst zu nehmen". Loki sei sehr präsent gewesen, erfrischend entwaffnend. Das Telefon klingelt, Helmut Schmidt ruft an, aus seinem Büro. Er habe sich nicht verabschiedet, stellt Loki fest. Deswegen rufe er an, erwidert dieser, "um tschüs zu sagen". Loki erwidert dasselbe, "Tschüs" – und das Gespräch ist vorüber. Ein junges altes Ehepaar im – gegen den Begriff hätten sie sich beide gesträubt – gesegneten Alter. Sie gehen fürsorglich miteinander um, ohne jede Sentimentalität.
Warum heißt Hannelore Schmidt eigentlich Loki? Der Name stammt aus der nordischen Götterwelt. Ein wenig beliebter Gott trägt ihn, eine "vielseitige, aber durchtriebene und listige Figur": "Weil «Hannelore» für das kleine Mädchen schwer auszusprechen war, übernahm sie das einfachere Wort für sich. «Loki» blieb sie ihr Leben lang. Dass sie damit einen eher negativ konnotierten Namen in etwas Grundsympathisches umdeutete, passt zu ihrem ungewöhnlichen Lebensweg." Sie sei ein Kind "armer Leute" gewesen. Loki Schmidt betonte das mit einem gewissen Stolz, selbstbewusst, und schämte sich, als sie bei Hitlers Besuch in Hamburg, ein Jahr nach der Machtergreifung, auch den Arm zum Hitlergruß empor gestreckt hatte, obwohl sie das nicht tun wollte. Ihr Vater sagte, dass gute Absichten niemanden schützen, trotzdem mitgerissen zu werden: "Weil das in der Natur des Menschen liegt. Darin vermittelte er eine überaus menschenfreundliche Botschaft: Man darf sich in manchen Momenten selbst verzeihen." Er erklärte ihr, wie Massenpsychologie funktionierte. Auch damit sie besser auf sich aufpasste. Die Familie Glaser war atheistisch und künstlerisch interessiert.
Das Ehepaar Schmidt sammelte aus Leidenschaft, aber niemals beliebig. Bronzeplastiken, Originalgemälde, von Emil Nolde, Chagall und Macke beherbergten sie. Im Gewächshaus fanden die "botanischen Kostbarkeiten" ein Obdach, die Loki mitbrachte von ihren Reisen. Bescheiden sei sie nicht gewesen: "Sie wollte etwas vom Leben und hat, ganz selbstbewusst und dabei charmant, genutzt, was ich ihr bot. Eine gewisse Demut zeichnete sie aus: die Demut, zu nehmen und zu schätzen, was das Leben einem gibt." Loki Schmidt liebte den "schnodderigen Umgang", wollte auch keine "Ehrfurcht vor ihrer Person", sprach ausgiebig mit den Handwerkern, die den Treppenlift installierten, ein "Wunderding", das ihr "selbstbestimmte Mobilität" ermöglichte. Sie wollte es immer ganz genau wissen. Vor der Queen kniete sie nicht, auch nicht vor anderen Majestäten. Elizabeth und Loki verstanden sich trotzdem prächtig. Mit dem japanischen Kaiser Akihito sprach sie über dessen naturwissenschaftliche Forschungen. Der Hof staunte. Beugte Loki Schmidt nie ihre Knie? Lothar Frenz schreibt: "Eine Hamburgerin kniet nicht? Von wegen, es hängt nur von den Umständen ab. Selbst die stolze Hanseatin Loki konnte Ausnahmen machen, belegt durch eine Fülle von Fotos. Um Pflanzen zu betrachten, die am Boden wuchsen, kniete sie sich gerne hin – und begegnete ihnen auf Augenhöhe."
Über Hamburg sprach sie oft, aber nicht lokalpatriotisch, besonders in jungen Jahren. Die Speicherstadt sei "Kitsch in höchster Potenz", das Rathaus unausstehlich in seinem "nachgemachten Stil". Später habe sie die Bauwerke zwar nicht geschätzt, aber "liebevoll totgeduldet". Sie wechselte gern Themen, "nach echter Loki-Art", sprach erst von den Alsterarkaden, dann vom "geliebten Barlach-Denkmal": "Plötzlich richtete sie den Blick auf etwas ganz anderes, das ihr ebenso wichtig war." Hamburg war ihre Heimat, eine Heimat, die das "Tor zur Welt" war. Das kann man auch nüchtern verstehen, eine "feste Basis, die sie geprägt hatte, aber auch Ausgangspunkt, um offen in die Welt zu gehen". Von der Klassenlehrerin Ida Eberhardt hatte sie gelernt, "immer genau hinzusehen, wer da vor ihr stand – und nicht nach Gruppenmerkmalen zu urteilen"; sie warnte vor "Pauchalurteilen".
Loki Schmidt bezeichnete ihre Jahre als Kanzlergattin als das "etwas seltsame andere Leben". Sie trat aber aus dem Rollenmuster heraus, ohne dass sie dem Begriff Emanzipation und der Frauenbewegung in den 1970er-Jahren etwas abgewinnen konnte. Loki besaß die Gabe, Verbindungen zu knüpfen. Bei Auslandsreisen fand sie das übliche "Damenprogramm" langweilig und besuchte lieber Botanische Gärten, Zoos oder Naturkundemuseen. Sie unternahm auch Forschungsreisen, in Zusammenarbeit mit der Max-Planck-Gesellschaft.
Die Ehe mit Helmut Schmidt hatte eine lange Vorgeschichte, in der Hamburger Lichtwarkschule lernten die beiden sich kennen. Dennoch fanden sie erst nach und nach zueinander. Manches braucht eben etwas Zeit. Frenz bezeichnete die Ehe der Schmidts als "Mythos", in der Wirklichkeit sei es ein "langes, gemeinsames Leben, oft mit räumlicher Distanz" gewesen. Sie hatten gemeinsame Interessen – vom Schachspiel über die Kunst bis hin zur Naturbeobachtung – und sich oft wortlos verständig. Helmut und Loki Schmidt waren aber auch verschieden genug, um es miteinander aushalten zu können. Spekulationen über Affären von Helmut Schmidt hatte es gegeben, aber es waren "nur Männer, die mich darauf ansprachen", so Frenz. 2007 hatte Theo Sommer die Frage gestellt, und Loki kommentierte das: "Das hätte nicht nötig getan." Lothar Frenz schreibt: "Klarer hätte Loki es nicht ausdrücken können, über welche Themen sie zu sprechen bereit war und über welche nicht: Privat ist privat und geht niemanden sonst etwas an. Wenn einer der beiden unter irgendeiner Verhaltensweise des anderen gelitten hat, dann haben sie es nicht in die Öffentlichkeit getragen. Was ist erstaunlich daran, dass sich in einem langen Leben auch so manche Krise ereignet? Ist es nicht viel erstaunlicher, dass zwei Menschen so lange zusammenbleiben? Und einander so gut sind? So eng miteinander verbunden und dabei doch so eigenständig?"
Sie sei "sein Zuhause", habe Loki gesagt. Frenz beschreibt behutsam, liebevoll und sorgfältig dieses "alte und alberne Ehepaar mit seinem tiefen Ernst". Bei einem Besuch teilte Helmut seiner Gattin mit, er habe ihr noch etwas Wichtiges zu sagen. Sie signalisierte die Bereitschaft, die Botschaft zu vernehmen – "mein Herr und Gebieter". Helmut sagte einfach: "Ich liebe dich noch immer." Loki setzte das Gespräch mit Lothar Frenz dann mit einem "besonderen Lächeln im Gesicht" fort.
Als Loki Schmidt verstorben war, berichteten die Medien darüber, voller Sympathie und Teilhabe. Im Naturschutz wird ihr Wirken unvergessen bleiben. Sie mochte besonders die "»huschigen«, oft nicht beachteten, gerne verschmähten Tiere". Sie dürften auch da sein, so wie wir. Loki konnte dann erzählen von Silberfischchen, Ameisen und Asseln. Ihr "ganz persönliches Neugierprojekt" war der Wald am Brahmsee. Dort ist die Natur sich selbst überlassen: "Man kann den Wald am Brahmsee also als Aufforderung auffassen, die Natur nicht zu inszenieren. Sondern im Sinne der Evolution zu sagen: Jetzt mach mal, Natur. Mit dem, was du hast! Wir lassen uns gern überraschen!" Lothar Frenz hat ein ausgesprochen schönes, außerordentlich lesenswertes Porträt über diese außerordentlich beeindruckende Frau vorgelegt. Wer dieses Buch liest, dem steht Loki Schmidt vor Augen – und jedem Leser wird sie immer gegenwärtig bleiben.
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