Betrachtungen eines Eisenbahnmenschen
Mit heiterem Ernst beobachtet der passionierte Zugreisende Jaroslav Rudiš, zudem Dichter, Dramatiker und Denker, seine Weggefährten und Begleiter, memoriert Episodisches aus Geschichte und Gegenwart. Diese Salzburger Vorlesung führt in die facettenreichen Sphären des Nebels, dem Rudiš in allen seinen Schriftstücken zugetan ist, poetisch, ernsthaft und mit feinem Humor. Der menschenfreundliche Literat verzichtet auf allen bitteren Zynismus, der gegenwärtig medial und auch literarisch gelegentlich vorherrscht. Jeglicher Hast setzt er Geruhsamkeit entgegen, reist und schreibt sinnierend, sinnlich und sinnreich.
Wer Zug fährt – und der "Eisenbahnmensch" Rudiš tut dies nur zu gern –, kennt die Möglichkeiten kurioser Verspätungen, die dann schablonenhaft in so amtliche Wendungen wie "Verzögerungen im Betriebsverlauf" von den Offiziellen des Bahnverkehrs verpackt werden. Bei Meldungen wie "Heute ohne Wagen 3, 4, 5 und 7" denkt sich der Reisende aus Leidenschaft vielleicht: "Aber immerhin mit Lok." Rudiš berichtet: "Sehr viel Zeit verbringe ich im Zug und nie ist es verlorene Zeit. Auch dann nicht, wenn ich den Anschluss verpasse und mit Verspätung ans Ziel komme." Im Zug begegnet er Menschen und ihren Geschichten. Manchmal werde er gefragt, wie er Bücher schreibe. Er selbst kann darauf keine präzise Antwort geben, vielleicht aber eine vordergründig nebelhafte Auskunft: "Doch eins sage ich immer, zuhören, ins Gespräch kommen oder auch nur das Geschehen beobachten, einfach ein wenig aufpassen, damit man nichts verpasst. Etwas, was man später niederschreiben kann." Aus dem Beiläufigen entsteht manchmal die Kunst, manchmal auch nicht. Der Schriftsteller bleibt aufmerksam, aber er arbeitet nicht zwanghaft methodisch. Ein Pensum muss er nicht absolvieren, er schreibt einfach so, wie es sich ergibt. Gerade in einer Vorlesung, in der Gelehrte wissenschaftlich sorgsam argumentieren würden, beginnt Jaroslav Rudiš einfach zu erzählen, etwa von dem einsamen Alois Nebel, der ihn an Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel denken lässt, eine beziehungslose Gestalt mit Kater und einer Sammlung alter Kursbücher: "Die Lektüre beruhigt ihn, denn das Kursbuch ist für ihn die Heilige Schrift. Hier ist die Welt in Ordnung. Immer wieder die gleichen Züge, wie vor fünfzig oder hundert Jahren. Und über alle und alles waltet die Göttin der Eisenbahn, die Bahnzeit." Doch Alois Nebel lebt mitnichten in einem Paralleluniversum, denn er "schaut auf die Züge, die ihn nicht nur beruhigen, sondern auch wahnsinnig machen, denn er weiß, wohin die Gleise in Europa führen können: In den Krieg. In die Vernichtung. In die Vertreibung."
"Wovor ich Angst habe, ist das Schweigen. Wenn man schweigt, ist man tot. … Wovor ich noch mehr Angst habe, sind humorlose Menschen. Die ganzen kleinwüchsigen, selbstverliebten Diktatoren zum Beispiel. Die Menschen, die keinen Humor haben, sollte man meiden."
Immer wieder begegnet der Schriftsteller auch dem wirklichen Nebel, dem Naturphänomen, das auf endlose Regengüsse folgt – und so manches Gedächtnis verliere sich in einem "unsichtbaren Nebel". Mancher verliert sich auch wahrhaft auf andere Weise im Nebel, denkt sodann an Theodor Fontane, Franz Kafka und Max Brod, an Stefan Zweig und Jaroslav Hašek. Über sie alle ließe sich endlos erzählen, fabulieren, gewissermaßen bis in den Nebel hinein. Über Literaten könne geplaudert werden – jeder darf, aber niemand muss über sie hochgemut philosophieren –, und man dürfe sich im "endlosen Erzählen" verlieren: "Wovor ich Angst habe, ist das Schweigen. Wenn man schweigt, ist man tot. … Wovor ich noch mehr Angst habe, sind humorlose Menschen. Die ganzen kleinwüchsigen, selbstverliebten Diktatoren zum Beispiel. Die Menschen, die keinen Humor haben, sollte man meiden." So viel lieber erinnert sich Rudiš an sympathische Gestalten, denen er begegnet ist, und aus einigen von ihnen wurden literarische Figuren, wie der "alte Rangierer", der nicht nur von Arbeitsunfällen erzählte, sondern auch von Güterzügen mit den "Spitznamen Nagasaki, Hiroshima und Tschernobyl": "So schwer und lang waren die Züge. So gefährlich war die Arbeit. Und dann ist er wieder bei den Unfällen." Doch nicht alles muss mitgeteilt werden: "Wir erzählen darüber, was wir waren und was wir sind. Nicht alles kann auserzählt werden. Es bleiben Lücken. Traumata. Das Nichterzählte." Zugleich bleiben Geheimnisse, Rätsel und Andeutungen, bis zu dem Tag, an dem ein Zug eintrifft, der nicht im Kursbuch verzeichnet ist, aber verlässlich eintrifft, und dessen Zugführer einen einzigen Reisenden mit sich nehmen wird auf eine Fahrt ohne Wiederkehr.Rudiš berichtet von seiner Heimatstadt Turnov. In der sozialistischen Tschechoslowakei sollte "alles vermeintlich Fremde … verschwinden": "Nicht nur alles, was deutsch oder österreichisch war, sondern auch alles, was jüdisch war. Alles, was nicht in die neue nationale Erzählung passte, sollte verschwinden." Geschichtslosigkeit, Geschichtsklitterung, das kehrt auf andere Weise heute wieder – wenn manches sprachlich Widerborstige und Unzeitgemäße aus historischen literarischen Texten getilgt werden soll. Muss, so lässt sich mit Rudiš fragen, ein neues Narrativ entstehen, eine neue nationale Erzählung? "Wenn man über die tschechische Kultur und Geschichten sprach, verstand man darunter nur das, was auf Tschechisch entstanden war. Das andere wurde beschlagnahmt. Oder vertrieben. Aus dem Land. Aus der Landschaft. Aus der Seele. Alles verschwand in einem Nebel des Vergessens." Es gebe aber im Tschechischen noch immer "deutsche Ausdrücke": "Die Landschaft wehrt sich immer. Die Menschen wehren sich. Die Geschichte wehrt sich." Jaroslav Rudiš reist und schreibt weiter, von Reisenden, Schriftstellern und Landschaften, auch von seiner Familie, so von seinem Opa, der nie ein Buch gelesen habe. Er fragte ihn, wie er schreibe und sich seine Figuren ausdenke. Darauf wusste der Enkel nichts Vernünftiges und auch nichts Unvernünftiges zu antworten. Er konnte auch nicht sagen, warum er überhaupt schreibe. Das sei einfach so, er mache das. Seinerseits fragte er den Opa: "Warum arbeitest du mit Holz?" Dessen Antwort folgt unmittelbar: "Weil es mir Spaß macht. Weil ich Holz mag. Weil ich was machen muss." Jaroslav Rudiš gefällt diese Antwort und meint: "Vielleicht ist es bei mir ähnlich." Also schreibt der tschechische Autor weiter, fährt Zug, beobachtet und betrachtet Menschen, spricht mit ihnen und verfasst ansprechende Texte. Viele Leserinnen und Leser werden ihm nach der Lektüre dieses Bandes aus einem durchaus egoistischen und nur zu verständlichen Motiv heraus wünschen, dass er noch viel reisen und viel schreiben möge. Die Bücher von Jaroslav Rudiš sind kostbar und lesenswert und zudem auch als Lektüre für unterwegs geeignet. Reisende mit der Bahn werden – Rudiš' "Durch den Nebel" lesend – vielleicht die Verspätung ihres Zuges gar nicht bemerken oder gelassen als Fügung annehmen.
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