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Dirk Kurbjuweit: Nicht die ganze Wahrheit

\"Erst abwracken, dann vögeln\"

Als Privatdetektiv Arthur Koenen erfährt, wen er da des Ehebruchs überführen soll, zögert er einen Moment lang. Unmöglich scheint es ihm, den Parteivorsitzenden der regierenden Sozialdemokraten Leonard Schilf, in Anbetracht der zahlreichen Leibwächter, unauffällig zu beschatten. Doch warum eigentlich nicht, schließlich ist auch Schilf nur ein Mensch, der Fehler macht. Und die andauernde Trennung von seiner Frau gäbe Anlass genug, dem weiblichen Geschlecht mehr als kollegial zugeneigt zu sein. Der Parteivorsitzende Schilf war einst die Hoffnung der Genossen, intelligent, loyal und redegewandt, doch in der heißen Phase der Nominierung zur Kanzlerkandidatur machte er einen entscheidenden Fehler. Auf Einladung des einstigen niedersächsischen Ministerpräsidenten Fred Müller sollte er der Presse im Wolfsburger VW-Werk einen Wagen vorführen, was gründlich in die Hose ging. Müller half ihm vor laufenden Kameras aus der Bredouille und war fortan der zupackende "Automann", der Mann für alle Fälle, der perfekte Kanzlerkandidat der SPD. Da störte es auch nicht mehr, dass Müller zum vierten Mal verheiratet ist, leidenschaftlich Rotwein trinkt und sich ab und an eine Zigarre gönnt. Ein Schelm, wer bei Fred Müller an Gerhard Schröder denkt. Wie dem auch sei, Leo Schilf ist nun gezwungen, als loyaler Parteivorsitzender seinem Kanzler zu dienen.

Den zeitlichen Hintergrund von Kurbjuweits neuem Roman "Nicht die ganze Wahrheit" bildet die zweite Legislaturperiode der rot-grünen Regierungskoalition und damit die Zeit der Agendapolitik. Die Parolen des längst überfälligen Sozialabbaus, des "Fordern statt Fördern" und der Haushaltskonsolidierung bestimmten damals den politischen Takt und trieben die Sozialdemokratie mit jedem Tag mehr in die Enge. Die junge Bundestagsabgeordnete Anna Tauert soll als SPD-Abgeordnete diese Politik mitverantworten, doch widerspricht diese völlig ihren eigenen Überzeugungen und Ansichten. Statt der Parteiführung nach dem Mund zu palavern und sich unterzuordnen, widerspricht sie dem auferlegten Konsens offen und legt sich schnell den Ruf der gewissenhaften Rebellin zu. Sie wird zum linkssozialen Gewissen ihrer Partei, die sich mit den Parteioberen anlegt. Exemplarisch zieht Kurbjuweit die Zahnersatzreform der rot-grünen Bundesregierung als Entscheidungsschlacht zwischen der jungen hoffnungsvollen Politikerin und der Parteiführung heran.

Was wie eine Reportage aus der Schröder’schen Regierungszeit klingt, ist Ausdruck der perfekt inszenierten Realo-Fiktion von "Nicht die ganze Wahrheit". Mit dem Roman gelingt dem derzeitigen Chef des Berliner Spiegel-Büros und ehemaligen Zeit-Redakteur nicht nur ein nahezu deckungsgleiches Abbild der rot-grünen Regierungskoalition, sondern auch eine amüsante und scharfsinnige Beschreibung des Innenlebens der kleinen und hintertriebenen Politwelt der Berliner Republik. Kurbjuweit erzählt in seinem Roman von den Intrigen und Machtspielchen der Berliner Politiker und lässt den Leser in die Abgründe des "Hauses Demokratie" schauen. Doch Vorsicht, werter Leser. Denn trotz der vielen Parallelen handele es sich keineswegs um einen Schlüsselroman, kommentiert der Autor, der als einer der schärfsten Beobachter der Berliner Republik gilt, augenzwinkernd.

Und schnell wird auch klar, wo der fiktive Schlüssel des Romans liegt. Anna Tauert und der Parteivorsitzende Leo Schilf pflegen eine heimliche Affäre, der Privatdetektiv Koenen schnell auf die Schliche kommt. Beide kommunizieren hauptsächlich per Email, um ihr amouröses Verhältnis vor der Welt geheim zu halten, denn ... was gäbe das schließlich für Schlagzeilen! Es ist der Einblick in diesen, für die Außenwelt unsichtbaren, aber zwischen Leo und Anna durchaus offen geführten, intimen Dialog zweier Liebender, der Koenen die Tragweite der Liaison für Anna und Leo deutlich macht. Mit Arthur Koenen hat Kurbjuweit einen sachlichen Vermittler zwischen das direkte Erleben der Romanfiguren und dessen unmittelbare Wahrnehmung durch den Leser gestellt, wie sie idealer Weise der Journalist als Mittler zwischen Politik und Bürger einnehmen sollte. Von Koenen erfährt der Leser schließlich auch vom Leid der jungen Abgeordneten, immer nur die heimliche Geliebte sein zu können und still das Schauspiel der heilen Welt der Familie Schilf nicht nur ansehen, sondern auch mitspielen zu müssen. Zwar scheint ihr völlig klar, dass es keine Zukunft für sie und Leo geben kann; sie klammert sich dennoch mit der Vehemenz einer tief empfundenen Liebe an die wenigen gemeinsamen, heimlichen Sekunden, Minuten und Stunden.

Zugleich findet in den E-Mails ein kontinuierliches politisches Zwiegespräch zwischen dem gedienten Vasallen des Kanzlers (Meister) und der jungen Rebellin (Schülerin) statt. Kurbjuweit gelingt es in diesen Passagen, das parlamentarisch-juristische Politsprech der tatsächlichen Bundestagsabgeordneten ins Abseits zu drängen und einen sachlichen Dialog ohne jegliche sprachliche Verrenkungen zu entfalten. In aller Deutlichkeit tritt so die nackte Mentalität des politischen Typus "Machthabermensch" zutage, wie sie Kurbjuweit selbst in seiner Arbeit als Journalist bei einigen Politikern erlebt hat. Politiker herrschen seiner Meinung nach nicht nur über Wörter, sondern auch über die Wahrheiten. Zumindest scheinen sie das so wahrzunehmen. "Unsere Wahrheit muss nicht von der Vergangenheit gedeckt sein und bindet uns nicht für die Zukunft. Wir sagen Wahrheiten für den Moment", erklärt Leo seiner geliebten Meisterschülerin das Wesen der Politik; und der Autor dem Leser die zunehmende Distanz zwischen Politiker und Bürger.

Während Leo zufrieden Annas Integration in den Kosmos Bundespolitik beobachtet, leidet diese zunehmend unter der persönlichen Distanzierung zum normalen Bürger, diesen "problematischen Leuten", die aus dem Mund riechen und immer ihr persönliches Leid in den Vordergrund stellen. Diese Auflösung der Bindung zwischen Wähler und Gewähltem sei nicht nur subjektiv wahrnehmbar, so Kurbjuweit. Das Leben und Erleben von Politikern unterscheide sich erheblich von dem der Bürger, so der Autor dazu und bestätigt so über Umwege die Rede vom Paralleluniversum Bundestag. Anna Tauert wird so notwendigerweise immer stärker Teil des sich selbst erhaltenden, politischen Systems. Ihr gekünsteltes Dasein im politischen Alltag wird zur Metapher ihres ganz und gar künstlichen Lebens in dieser Affäre, die sie immer stärker aufwühlt: "Das Paradies [der geheimen Beziehung] ist künstlich, es ist nicht das Leben, und ich will ein Leben mit dir, ein echtes. Dir macht es nichts, weil auch die Politik ein künstliches Leben ist, du bist daran gewöhnt, aber ich gehe daran zugrunde."

Der Sensationsgier der chauvinistischen Presse und Öffentlichkeit ausgeliefert, gerät Anna mehr als einmal an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit und Geduld und präsentiert Leo die Rechnung für sein falsches Spiel: "Alle starren mich an, als wollten sie ergründen, ob mein Lächeln zu schnell anspringt. Ob ich geschminkt bin wie jemand, der sein Gesicht nicht kennt. […] Ob ich gevögelt wurde. Nein, könnte ich denen zuschreien, wurde ich nicht, wurde ich schon lange nicht mehr, weil mein Liebster den Sozialstaat abwracken muss, und dann hat mein Liebster keine Zeit zum Vögeln. Den Sozialstaat abwracken ist wichtiger als Vögeln, viel wichtiger, viel, viel wichtiger, tausendmal wichtiger. Erst abwracken, dann vögeln, nicht wahr, Leo, so ist es doch?"

Mit "Nicht die ganze Wahrheit" ist Dirk Kurbjuweit ein kompakter, intensiver Roman gelungen, der eine Menge von dem politischen Theater in der Bundeshauptstadt zu erzählen weiß. Kurbjuweit versteht es, den Leser geschickt in seine Erzählung einzubinden und in die Rolle des fasziniert beobachtenden Privatdetektivs Arthur Koenen zu schlüpfen. Schnörkellos und unumwunden konfrontiert er den Leser mit den erschütternden wie auch komischen Tatsachen des Politikeralltags sowie mit der Intensität der kontrolliert leidenschaftlichen Affäre. Neben der scharfsinnigen Aufdeckung der Doppelmoral so mancher machtversessener Politiker - insbesondere während der rot-grünen Regierungsjahre, von denen er mit diesem Roman eine gelungene Karikatur zeichnet - vollzieht Kurbjuweit eine einfühlsame Analyse der Tragödie namens Beziehung. "Nicht die ganze Wahrheit" lässt den Leser hinter die Kulissen der politischen Bühne blicken und bringt so Licht in manch finstren Winkel dieser mitunter auch allzumenschlichen Welt - immer in den Grenzen, wie es ein fiktiver Roman zu leisten vermag.


von Thomas Hummitzsch - 18. Juni 2008
Nicht die ganze Wahrheit
Dirk Kurbjuweit
Nicht die ganze Wahrheit

Nagel & Kimche 2008
219 Seiten, gebunden
EAN 978-3312004102