https://www.rezensionen.ch/digitaler-wohlstand-fuer-alle/3593509296/

Achim Wambach, Hans Christian Müller: Digitaler Wohlstand für alle

Digital-Update für die Soziale Marktwirtschaft

Die digitale Revolution in Wirtschaft und Gesellschaft ist in vollem Gange. Die Wucht dieser Entwicklung zeigt sich u. a. an den vielfältigen Apps auf unseren Smartphones ebenso wie anhand der Beispiele der Digitalisierung in der Arbeitswelt und der rasanten Änderung von Geschäftsmodellen, etwa im Bereich der Sharing Economy. Es gibt praktisch keinen Lebensbereich, der nicht vom Wandel erfasst wird. In modernen Häusern lassen sich beispielsweise Sicherheitseinrichtungen, Haushaltsgeräte und Heizkörper aus der Ferne steuern. Die Industrie verbindet weltweit ihre Maschinen und lässt sie aufeinander abgestimmt arbeiten. Der Handel wandert immer mehr ins Internet ab, in dem Bestellungen in Sekundenschnelle und Auslieferungen spätestens am nächsten Tag möglich sind. Autos können bald von alleine fahren. Kleine Armbänder überwachen die Gesundheit und Vitalität der Menschen im Alltag. Die Blockchain-Technologie und eine Welt ohne Bargeld stehen vor der Tür. Systeme mit künstlicher Intelligenz schaffen Mustererkennung durch Big Data und können z. B. aus einer Menge medizinischer Daten Hinweise auf Krankheiten ableiten, Sprache verstehen lernen und simultan übersetzen, Lippen lesen und Gesichter erkennen.

Die Digitalisierung besitzt somit ein Riesenpotenzial den Wohlstand weiter zu mehren. Vor diesem Hintergrund geht es im vorliegenden Buch primär um die bislang noch wenig untersuchte Fragestellung, was die Digitalisierung nicht nur für die einzelnen Märkte und Branchen, sondern vor allem für das gesamte Wirtschafts- und Wohlstandmodell bedeutet und wie es gelingen kann, dass der Wohlstand auch in der Internetepoche für alle und nicht nur für die digitale Elite erreicht werden kann. Mit dem Titel des Buches knüpfen die beiden Autoren offensichtlich an Ludwig Erhards "Bibel", "Wohlstand für alle", aus dem Jahr 1957 an. Erhard, erster und langjähriger Wirtschaftsminister und relativ kurze Zeit auch Kanzler der jungen Bundesrepublik, und sein Leiter der Grundsatzabteilung, Alfred Müller-Armack, haben gemeinsam mit anderen das erfolgreiche Konzept der Sozialen Marktwirtschaft aus der Taufe gehoben. Demnach soll der Staat auf der einen Seite, wo immer möglich, darauf verzichten in die Wirtschaft, etwa über Preis- und Mengenregulierungen, einzugreifen. Es wurde darauf vertraut, dass freie Märkte am besten in der Lage sind, jene Dynamik zu erzeugen, welche die Wirtschaft vorantreibt. Andererseits wussten die Protagonisten der Sozialen Marktwirtschaft auch, wie viel Unsinn und Schaden eine Marktwirtschaft anrichten kann, wenn sie nicht in geordneten Bahnen stattfindet. Als zentrale Leitplanke hierzu zählte Erhard vor allem die Wettbewerbspolitik, welche verhindern sollte, dass Unternehmen, beispielsweise durch Kartellbildung oder durch Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung, ungerechtfertigt Vorteile erzielen. Darüber hinaus zählten aber auch die Sozial- und Bildungspolitik zu den wesentlichen Parametern der Ordnungspolitik im Erhardschen Sinne.

Beide Autoren halten die Grundidee Ludwig Erhards immer noch für die richtige, d. h. die Soziale Marktwirtschaft als das passende Ideal einer wirtschaftlichen Ordnung. Es müssen nur die einzelnen Maßnahmen, die dafür nötig sind, angepasst werden, weil auch die Märkte, Mechanismen und Kraftverhältnisse heute anders sind. "Die Ordnungspolitik, wie sie Ludwig Erhard skizziert hat – sie braucht also ein Update. Genau darum geht es hier. Der Grundtenor des Buches ist dabei positiv und optimistisch. Wir sind überzeugt: Die Digitalisierung ist eine große Chance!" Und wer sonst könnte das besser beurteilen als die beiden Verfasser. Achim Wambach, der als gelernter Physiker den heute in der Ökonomie oftmals unverzichtbaren mathematischen Ansatz bravourös beherrscht und sich dennoch seinen Sinn für Ordnungspolitik bewahrt hat, gehört laut dem FAZ-Ökonomenranking zu den einflussreichsten Ökonomen in Deutschland. Er ist Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim, Professor für VWL an der Uni Mannheim und nicht zuletzt Vorsitzender der Monopolkommission, ein unabhängiges Beratungsgremium, das die Bundesregierung und die gesetzgebenden Körperschaften auf den Gebieten der Wettbewerbspolitik, des Wettbewerbsrechts und der Regulierung berät. Hans Christian Müller hat an der Kölner Journalistenschule gelernt, VWL in Köln studiert, in Düsseldorf im Fach Wettbewerbsökonomie promoviert und arbeitet als Datenjournalist beim Handelsblatt.

Wer der Ordnungspolitik ein Update verpassen möchte, der muss zuerst einmal die Prinzipien der modernen Wirtschaft verstehen. Dementsprechend befassen sich die zentralen Kapitel des Buches zuerst mit den spezifischen Merkmalen der digitalen Wirtschaft:

Monopole statt Wettbewerb – die Großen Fünf der Internetwirtschaft, Google, Apple, Amazon, Microsoft und Facebook, besitzen eine enorme Marktmacht, sind teils in kürzester Zeit zu unglaublicher Größe aufgestiegen, dominieren ihre Kerngeschäfte quasi alleine und ihr Vorgehen zeigt nicht selten äußerst aggressive Züge. Viele digitale Produkte sind umso attraktiver, je mehr Menschen sie nutzen, was die Konzentration von Märkten befördert. Und wer mit einem Produkt Erfolg hat, dem fällt es in der Digitalwirtschaft besonders leicht, in einem benachbarten Markt Erfolg zu haben, denn Marktgrenzen verschwimmen, weil die Kundendaten, die man bereits gesammelt hat, auch hier von großem Nutzen sein können. Hinzu kommt, dass die steuerliche Belastung dieser Netzgiganten meist geringer ist als bei kleineren Unternehmen, weil sie aufgrund ihrer Größe genügend Expertise haben, um unterschiedliche internationale Regularien optimal ausspielen zu können.

Daten statt Preise – während den Preisen in der Marktwirtschaft eine zentrale Rolle für die Steuerung von Angebot und Nachfrage zukommt, gibt es in der digitalen Wirtschaft vieles umsonst, oder exakter: für null Euro, denn gezahlt wird mit Daten. Im Tausch gegen ein Postfach von Google Mail oder ein Facebook-Konto geben Kunden Informationen über sich preis, die wiederum für Werbetreibende interessant sind. Die Daten werden zum entscheidenden Produktionsmittel, deren Wert mit wachsender Menge häufig überproportional steigt und die Verbindung von verschiedenen Datensätzen eröffnen oftmals neue wertvolle Möglichkeiten. Daraus resultieren viele Vorteile, etwa für die Effizienz und Effektivität von industriellen Produktionsprozessen und für die Produkte selbst, aber auch für die Anbauverfahren in der Landwirtschaft und die Prozesse in der Logistik sowie nicht zuletzt für die verschiedenen Dienstleistungen staatlicher Behörden. Andererseits gilt auch: wer die Daten hat, der hat die Macht. Das kann dann negative Folgen insbesondere für den Wettbewerb und den Datenschutz mit sich bringen.

Clickworkertum statt Sozialpartnerschaft – die Verfasser widersprechen mit Nachdruck der These vom drohenden "Ende der Arbeit", nicht zuletzt aufgrund der eigenen Forschungen des ZEW. Sie machen allerdings auch deutlich, dass sich die Arbeitswelt gravierend ändern wird. Während Routineaufgaben von Computern und Maschinen übernommen werden, entstehen viele neue Jobs und Arbeitsformen. Es ist zwar nicht zu erwarten, dass das prekäre Clickworker-Dasein zum Massenphänomen werden wird, aber die wachsende Individualität in der digitalen Arbeitswelt wird die alte Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern infrage stellen.

Sharing statt Eigentum – das Eigentum war der zentrale Antrieb der Wirtschaft zu Ludwig Erhards Zeiten. Heute dagegen reicht es vielen, etwas nutzen zu können. Dabei steht die Alternative Sharing statt Eigentum nur exemplarisch für den grundlegenden stattfindenden Strukturwandel und für das Entstehen zahlreicher neuer Geschäftsmodelle, u. a. beim Car-, Werkzeug-, Bike- und Apartmentsharing sowie im Zusammenhang mit Crowdfunding.

Die Verfasser belassen es jedoch keineswegs bei der Analyse der aktuellen Situation und Entwicklung. Der eigentliche Mehrwert dieses Buches gegenüber so manchen Publikationen über die Internetwirtschaft besteht darin, dass zu den einzelnen Teilthemen in jedem der Kapitel ganz konkrete Vorschläge erarbeitet werden, welche Weichen heute gestellt und welche Leitplanken errichtet werden können, um auch zukünftig Ludwig Erhards Vision vom Wohlstand für alle zu realisieren, gewissermaßen – so das Cover des Buches – "eine Gans zu füttern, die goldene Eier legt". Die breite Palette von Vorschlägen umfasst u. a. innovative und praktikable wettbewerbs- und datenschutzrechtliche sowie bildungs-, arbeits-, sozial- und steuerpolitische Maßnahmen.

Alles in allem zeichnet sich das Buch durch eine überzeugende Verbindung aus fundierter Analyse, nachvollziehbarer Bewertung und klaren Handlungsempfehlungen zur Digitalwirtschaft aus. Dem "Autorenmix aus Wissenschaft und Journalismus" ist ein vortrefflicher Wurf einer auch für Nichtökonomen gut verständlichen, informativen sowie spannenden Lektüre gelungen.


von Bernd W. Müller-Hedrich - 30. März 2019
Digitaler Wohlstand für alle
Achim Wambach
Hans Christian Müller
Digitaler Wohlstand für alle

Ein Update der Sozialen Marktwirtschaft ist möglich
Campus 2018
222 Seiten, gebunden
EAN 978-3593509297