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Necla Kelek: Die verlorenen Söhne

Der türkische Mann in Deutschland

Nachdem Necla Kelek im Jahr 2005 mit ihrem Buch "Die fremde Braut" auf die verbreitete Praxis arrangierter Ehen auch bei türkischen Familien in Westeuropa und den daraus resultierenden Aufbau einer türkischen Parallelgesellschaft in Deutschland aufmerksam gemacht hat, wendet sie sich in ihrem neuen Buch zwar auch der Benachteiligung der Frauen, aber auch den Auswirkungen auf das Leben der Männer zu.

Die Autorin hat jüngere und ältere Männer türkischer Herkunft in Deutschland interviewt und sich deren Leben schildern lassen. Die meisten stammen, wie Kelek selbst, aus dem anatolischen Hochland. Die in diesem Buch beschriebenen Lebensläufe ermöglichen dem Leser Einblicke in eine fremde Kultur. Bewegende Schicksale sind darunter, aber auch Traditionen, die Entsetzen und Empörung hervorrufen; Traditionen, bei denen der Einzelne nichts zählt, wo Frauen verschachert werden und auf die Wünsche oder Sehnsüchte der Männer ebenso wenig Rücksicht genommen wird.

Der zwölfjährige Adam bleibt nach dem Tod erst der Mutter, dann des Vaters mit seiner fünfjährigen Schwester und einem Baby allein zurück, weil die ältere Schwester im Haus der Schwiegermutter als Arbeitskraft gebraucht und die junge Stiefmutter von dieser sofort wieder mit einem anderen Mann verheiratet wird. So stirbt deren Baby, weil die hilflose Fünfjährige mit der Fürsorge überfordert ist, der intelligente Junge kann nicht zur Schule gehen, sondern muss arbeiten. Trotzdem wäre ihm der Schritt zu einer funktionierenden Familie - trotz einer arrangierten Ehe - beinahe geglückt, bis ein Unwetter die Existenzgrundlage vernichtet und wieder die Familie, diesmal der Schwager, sich in das Leben Adams und seiner Frau einmischt.

Es sind Geschichten von Gewalt und Brutalität in der Familie, von fehlender Zeit, Liebe und Fürsorge für die Kinder; von Eltern, die sich aufs Geldverdienen konzentrieren; von viel zu jungen Müttern, denen die Kompetenz und Autorität zur Erziehung fehlt; von Eltern, die Kinder zurück in die Türkei schicken, wenn sie stören, und sie wieder holen, wenn die Familie sie in Deutschland braucht; Geschichten von Kindern, die nicht erkennen wollen, dass ihre Eltern nicht alles perfekt gemacht haben und selbst an ihren Kindern dasselbe wiederholen; von Jungs, deren wichtigste Bezugsgruppe ihre Kumpels auf der Straße sind, weil in der Wohnung kein eigener Ort, kein eigenes Zimmer für die Söhne vorgesehen ist, und die niemals ihre Freunde mit nach Hause bringen können, weil sie dort ihren Schwestern begegnen würden; Geschichten von Menschen, die sich für ihr Handeln nicht voll verantwortlich fühlen, weil sie sich ihren Traditionen entsprechend verhalten.

"Der Vater herrscht in der Familie wie ein Despot auch über die Gefühle seiner Söhne. Er baut sich einen Familienstaat auf, in dem die Söhne seine Ordnungsmacht darstellen. An dieser Aufgabe müssen sie [in Europa] scheitern." (S. 147) Denn: "Kinder werden zur Nachahmung, nicht zur Selbständigkeit erzogen". Die Söhne imitieren "den Vater, borgen sich dessen Macht oder was sie dafür halten. Sie lernen Macht nicht als geistige oder argumentative Überlegenheit oder als Schutz und Geborgenheit kennen, sondern als dumpfe Gewalt. [...] Sie werden geschlagen, dafür dürfen sie schlagen - wenn auch nicht den Vater." (S. 149) Gehorsam zählt, nicht die Zukunftschancen der Kinder in Deutschland. Viele türkische Eltern verlangen von ihren in Deutschland geborenen Kindern, "nach den archaischen Regeln ihres anatolischen Heimatdorfes zu leben. Sie haben sie damit einer fast tragisch zu nennenden Zerreißprobe ausgesetzt [...]: Wer sich für die Familie entscheidet, entscheidet sich gegen das Land, in dem er lebt" (S. 209).

Keiner der Interviewpartner Keleks konnte sich im Laufe seines Lebens "von der übermäßigen Furcht vor dem Vater lösen" (S. 148). Keiner kam auf die Idee, dem Vater wegen seiner Gewalttätigkeit oder seiner Vernachlässigung Vorwürfe zu machen. Jugendliche aus Hamburg, mit denen die Autorin sprach, halten es für selbstverständlich, mit 18 oder 19 Jahren verheiratet zu werden, ohne Aussicht auf eine Lehrstelle oder einen Beruf, mit dem sie eine Familie ernähren könnten. Dafür ist die Familie als Ganzes zuständig, nicht sie selbst. Ihre Frauen werden natürlich das Kopftuch tragen müssen. Denn die Jugendlichen hängen zwar seit ihrer Kindheit nach der Schule auf der Straße herum und verschaffen sich durch Gewalt und Macho-Gehabe "Respekt"; sie leben nicht nach Allahs Regeln, doch in den Koranschulen haben sie gelernt, dass sie niemals vergessen dürfen, dass sie Muslime sind.

Zwei Varianten misslungener Integration anatolischer Türken in Deutschland werden hier sichtbar: Bei der ersten bringt die kritiklose Konformität gegenüber den Ansprüchen der Familie den Einzelnen in Konflikt mit den Anforderungen und Gesetzen der deutschen - und teilweise auch der türkischen - Mehrheitsgesellschaft; bei der zweiten zerbricht der Einzelne an dem Konflikt zwischen den eigenen Lebenszielen und den Ansprüchen des Kollektivs auf sein Leben. Besonders für Mädchen und Frauen fatal wirkt sich dabei aus, dass sich nicht nur Väter und Brüder, sondern auch fremde Männer berufen fühlen, "wachsam" zu sein und zu kontrollieren, ob sie die muslimischen Vorschriften in der Öffentlichkeit einhalten; denn Sure 7, Vers 157 des Koran verkündet, der Muslim solle "gebieten, was recht ist" und "verbieten, was verwerflich ist" (S. 184). Dieser Vers ist die religiöse Rechtfertigung für die soziale Kontrolle, welche die türkische Gemeinschaft über jeden Einzelnen ausübt.

Kelek erzählt mit viel Einfühlungsvermögen. Die Empathie führt aber nicht zum Verlust des analytischen Blicks. So entsteht ein spannendes Bild einer fremdartigen Gesellschaft mitten unter uns; es erinnert an eine "dichte Beschreibung" im Sinne Clifford Geertz' und hilft, den Blick zu schärfen. Vor allem gebührt der Autorin Respekt für ihren Mut, über Missstände zu berichten. Denn wenn die türkischstämmige Mittelschicht schweigt und aus den türkischen Wohngebieten in Europa wegzieht, um dem Druck zur Übernahme dörflich-islamischer Traditionen zu entgehen, grenzen sich die verschiedenen Parallelgesellschaften immer stärker voneinander ab; eine Verständigung zwischen den Kulturen rückt in weitere Ferne denn je.

Necla Kelek trägt zum Schluss eine Reihe politischer Forderungen für den Umgang mit muslimischen Migranten in Deutschland vor. Sie kommt zu dem Resultat: "Ohne die Ächtung der Scharia und des Prinzips der Vergeltung sind alle Bemühungen um Integration der Muslime zum Scheitern verurteilt. [...] Ohne die Ablehnung des islamischen Rechtssystems bleibt die Anerkennung der Menschenrechte ein Lippenbekenntnis." (S. 202) Insgesamt ist dieses Buch das leidenschaftliche Plädoyer einer Wahl-Europäerin für die Freiheit.


von Eva Lacour - 24. Juni 2006
Die verlorenen Söhne
Necla Kelek
Die verlorenen Söhne

Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes
Kiepenheuer & Witsch 2006
217 Seiten, gebunden
EAN 978-3462036862