Katatonie
Der New Yorker Peter Moore Smith macht uns in seinem Debütroman mit den Untiefen des menschlichen Gehirns und der Psyche bekannt. "Die vergessene Zeit" erzählt die Geschichte zweier sich ungleicher Brüder und ihrer Familie, den Airies. Einst bestand diese aus den Eltern und drei Kindern, bis die kleine Tochter Fiona eines Abends spurlos verschwand und ihr Schicksal nie aufgeklärt werden konnte. In der Folge trennten sich die Eltern. Der ältere Bruder Eric entwickelte einen extremen Ehrgeiz und wurde Gehirnchirurg. Seinem Bruder Pilot dagegen gelang es nicht, Fuß zu fassen. Die Handlung setzt 20 Jahre nach dem Verschwinden Fionas ein. Pilot kommt mit seinem Leben nicht mehr klar, Eric holt ihn nach Hause. Die Mutter leidet an einer unerklärlichen Sehschwäche, sie nennt es "Gespenster sehen". Eines Tages, Pilot ist auf dem Weg die Mutter abzuholen, kommt er nicht am Ziel an. Drei Tage später wird er im Wald, der an das Grundstück der Airies grenzt, aufgefunden. Er hat einen psychotischen Schub erlitten und wird in die Psychiatrie eingewiesen. Die Diagnose lautet zunächst Schizophrenie. Doch zweifelt die Therapeutin Katherine, ob Pilot wirklich schizophren ist und beschäftigt sich deshalb mit dem Geschehen um Fionas Verschwinden. Sie beginnt nachzuforschen.
20 Jahre lang Katatonie, 20 Jahre lang Stillhalten der Beteiligten, 20 Jahre lang Verdrängungsmechanismen, und dann das Bewusstwerden der Erinnerung, so könnte man den Roman auch beschreiben. Der Originaltitel ist "Raveling", was so viel heißen kann wie "verwirrend". Verwirrend sind die Fallstricke unseres Gehirns und die Täuschungen, denen Erinnerungen erliegen können bzw. die Unsicherheiten an einer Erinnerung. Die Protagonisten sind verwirrt, nicht unbedingt in einem krankhaften Sinn. Doch verwirrt, weil plötzlich Gedanken und Gefühle auftauchen, vor denen sie immer geflüchtet waren. Es ist, als hätte Fiona beschlossen, dass 20 Jahre Geheimnis genug sind, und die Wahrheit nun ans Licht muss. Es ist natürlich nicht Fiona, sondern Pilot, der die Dinge in Gang bringt. Sein Unterbewusstsein und seine Therapeutin ermuntern ihn, die erlebte Wahrheit ans Licht kommen zu lassen, das Knäuel von Gefühl und Erinnerung, von Täuschung und Realität zu entwirren.
Ungewöhnlich ist die Erzähltechnik von Smith. Der Roman ist aus der Sicht Pilots erzählt, doch in verblüffender Weise besteht die Erzählhaltung sowohl aus der ersten und der dritten Person und trägt erheblich dazu bei, die Motivation des Buches zu beschreiben und real zu machen. Der Leser ist zunächst irritiert, erkennt jedoch sehr schnell, dass das Buch und der Spannungsverlauf von diesem stilistischen Mittel lebt und profitiert. Zudem gelingt es Smith einen Begriff darüber zu vermitteln, wie man sich wohl unter dem Einfluss von Psychopharmaka fühlt. Dieser psychologische Roman entwickelt auf den letzten 100-150 Seiten die meiste Spannung, zuvor glaubte der Leser sich ein Bild machen zu können, die Geschehnisse einordnen zu können. Doch dann kommt plötzlich Unsicherheit auf, denn immer dann, wenn man glaubt, die Lösung zu kennen, wird sie wieder in Frage gestellt.
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