Das Königreich Westphalen und der Einfluss Frankreichs
Sechs Jahre nur dauerte die kurze Geschichte des Königreichs Westphalen. Napoleon wollte einen - von Frankreich abhängigen - Pufferstaat westlich von Preußen und Russland schaffen und so ließ er das neue Königreich von Magdeburg über Hannover bis Kassel von seinem Bruder Jérome regieren. Die neue Regierung machte sich sofort daran, den neuen Staat nach französischem Vorbild umzugestalten, was auf vielen Gebieten eine Modernisierung der überkommenen Verhältnisse bedeutete.
Christian zur Nedden untersucht in seiner Freiburger rechtswissenschaftlichen Dissertation die Auswirkungen auf die Strafrechtspflege. Er beleuchtet sowohl die neuen rechtlichen Regelungen als auch deren Umsetzung in der Praxis an verschiedenen Beispielen, besonders ausführlich aber anhand des Prozesses gegen den Braunschweiger Zitronenhändler Claus, dem die Ermordung eines französischen Offiziers aus Eifersucht vorgeworfen wurde. An diesem Fall wird eindrücklich klar, wie wenig unabhängig die Justiz in dem angeblichen Rechtsstaat und wie groß vor allem der Einfluss Frankreichs auf seinen Satelliten war. Bemerkenswert ist, wie gut in der kurzen Zeit, die für teilweise große Umstellungen zur Verfügung standen, die neuen Institutionen funktionierten, auch wenn Richter und Prokuratoren die alten, gemeinrechtlichen Prinzipien an die neuen Vorschriften anzupassen und soweit möglich weiter anzuwenden suchten. Entsprechend reibungslos wurden die neuen Einrichtungen nach Auflösung Westphalens von den alten Herrschern wieder abgeschafft, z.B. ging man umstandslos vom öffentlichen und mündlichen Geschworenenprozess wieder zum alten, schriftlichen Inquisitionsprozess mit der überholten Einheit von Ankläger und Richter über.
Interessant ist, wie anders sich die Verhältnisse im Rhein-Mosel-Departement entwickelten, das 1816 an Preußen kam. Hier war in den etwas 20 Jahren französischer Herrschaft eine regelrechte Anhänglichkeit gegenüber dem französischen Recht entstanden, das man trotz gewisser Nachteile im Vergleich zum Preußischen Allgemeinen Landrecht - der Härte vieler Strafen etwa - mit Klauen und Zähnen erfolgreich verteidigte. Der napoleonische Code Civil blieb hier bis zur Einführung des BGB im Jahre 1900 in Kraft. Im Unterschied zu Westphalen, dessen Einzelterritorien einfach den früheren Inhabern und deren Beamten zurückgegeben wurden, kam die Rheinprovinz neu unter preußische Herrschaft - die geistlichen Kurfürsten wurden nicht wieder eingesetzt - die Bewohner galten als unzuverlässig, viele Beamte wurden aus Preußen hierher versetzt. Im Gegensatz zu Westphalen war man hier plötzlich stolz auf viele von den Franzosen eingeführte Neuerungen und empfand sie als Teil der rheinischen Identität. Auf dem Gebiet des Königreichs Westphalen dagegen "dauerte es mehr als 30 Jahre, bis die Strafjustiz auch in Hannover, Kurhessen und Braunschweig wieder den Stand der Entwicklung des Jahres 1813 erreichte (S. 146).
Da das Rheinische Recht in jüngerer Zeit vermehrt erforscht wird, ist umso begrüßenswerter, dass mit Neddens Dissertation nun eine Arbeit über eine kurzzeitig parallele, später aber ganz anders verlaufene Entwicklung vorliegt.
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