Carte Blanche oder Tabula Rasa?
Bereits vor zehn Jahren veröffentlichte der portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago eine beißende politische Parabel mit dem deutschen Titel "Die Stadt der Blinden". Sein neuester Roman "Die Stadt der Sehenden" spielt in der gleichen Stadt und auch einige der damaligen Personen treten wieder auf. Doch diesmal haben sich die Vorzeichen gewandelt und aus braven Staatsbürgen werden Aufständische, die ihre Regierenden in Angst und Schrecken versetzen, indem sie das "Abstimmen durch das Volk" wörtlich nehmen und ihren Unmut über die selbstherrlich herrschenden Demokraten dadurch kundtun, dass über 75 % der Wahlzettel unbeschriftet abgegeben werden. Die völlig verstörten Parteien schieben das naheliegende vor: Die Menschen sind bequem und das Wetter war mies. Schnell werden Neuwahlen angesetzt, doch das Ergebnis ist noch niederschmetternder - diesmal sind es 83 % der Stimmzettel, die völlig leer abgegeben werden. Ungewöhnliche Zeiten erfordern auch in westlichen Demokratien ungewöhnliche Mittel und so verlässt die Regierung mit all ihren Behörden die Stadt und schirmt die Stadt voller Terroristen mittels militärischer Mittel ab, nimmt willkürliche Verhaftungen und Folterungen vor. Was tut man nicht alles, um die Demokratie zu schützen…
In den Wochen vor den Wahlen stellen die Medien die so beliebte "Sonntagsfrage": Wen würden sie wählen, wenn heute Wahl wäre? Saramagos Leser könnten sich zu Beginn des Romans etwa folgende Version dieser Frage stellen: "Was glauben Sie, würde mit der Rechtsordnung geschehen, wenn sich von Jetzt auf Gleich die regierende Demokratie auflösen würde, ohne das ein anderes Rechts- oder Regierungssystem in Kraft tritt?". Die häufigste Antwort würde wohl lauten - DAS CHAOS oder DIE ANARCHIE würde ausbrechen. Der Leser lehnt sich selbstzufrieden in seinen Lehnstuhl zurück und blättert eine Seite weiter. Doch Saramago treibt seine politische Parabel auf die Spitze und überrascht den Leser mit einer völlig anderen Antwort, welche ungeahnte, komplizierte und komplexe Folgen hat, denn in der Stadt bleibt es völlig ruhig. Erfüllt die Demokratie noch einen Sinn oder sind die Regierungsapparate so mit administrativem Gewicht belastet, dass sie verwalten und nicht regieren? Oder sollen Politiker nur noch Repräsentieren wie die Queen in England? Und wie weit würde die Allianz, bestehend aus allen abgewählten Politikern quer hinweg über alle Parteien, gehen, um an der Macht zu bleiben?
Natürlich werden die nach der Wahl folgenden Ereignisse nicht in plumpem Schwarzweiß gezeichnet, der Autor führt uns vielmehr an Hand von Figuren wie der Bürgermeister oder der Innenminister diverse Handlungsmöglichkeiten auf solch eine vertrackte Situation vor, die von Defätismus oder Aussitzen über Verweigerung der Zustimmung zu den Maßnahmen und Amtsniederlegung bis hin zum offenen Widerstand reichen. Mit diesen ausführlichen und für den weiteren Verlauf des Romans notwendigen Überlegungen beschäftigt uns der Autor etwa 200 Seiten, bis er dann seine Erzählung auf zwei Figuren und deren Handlungen und Motivationen konzentriert.
Eine faszinierende, vielschichtige politische Parabel. Aus dem Symbol der weißen Flagge wird ein rotes Tuch. Der einlullenden Rhetorik und den Wortblasen der Politiker setzt Saramago die Macht der Tabula Rasa gegenüber. Wie ein Kind, das fasziniert beobachtet, wie eine simple Nadelspitze so ein gewaltiges Werk wie einen prall gefüllten Luftballon zum Platzen bringen kann, führt uns der Autor vor Augen, wie schmal der Grat zwischen den verschiedenen politischen Denksystemen sein kann.
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