Die islamische Revolution im Iran und ihre Opfer
Isaac Amin ist ein stadtbekannter Juwelier. Er genießt im Teheran der siebziger Jahre den Ruf, der beste Juwelier des Landes zu sein und stattet als solcher selbst die Gattin des Schahs mit seinem Geschmeide aus. Es gelingt ihm durch sein reges Tun ein sozialer Aufstieg bis in die High-Society Teherans. Er hat Hausangestellte und mehrere Ferienhäuser, unternimmt Reisen in die europäischen Metropolen und feiert fröhliche Hauspartys mit Freunden und Bekannten der oberen Schicht. Dass Isaac jüdischer Abstammung ist, ist für ihn weder geschäftlich noch privat von Bedeutung. Amin ist in erster Linie Iraner, der sein Bestmögliches für seine Familie leistet und die Vorzüge, die ihm daraus entspringen, als gerechten Lohn seiner Arbeit empfindet. Politisch oder gar religiös ist er mitnichten.
Doch diese gesicherte Existenz gerät mit der islamischen Revolution in Gefahr. Die Revolutionswächter säubern die iranische Gesellschaft nicht nur von dem aus ihrer Sicht verkommenen Gedankengut der westlichen Welt, sondern auch von den Günstlingen und Anhängern des Schahs. In deren Augen gehört Isaac Amin zu diesen Günstlingen, ging er doch in den hohen Häusern ein und aus. Amin wird in seinem Büro verhaftet und gerät in die Foltermaschine der iranischen Revolutionäre. Anfangs geht er davon aus, dass er bald wieder freigelassen wird, hat er sich doch keines Verbrechens schuldig gemacht. Doch soll er sich damit täuschen. Es beginnt eine Odyssee durch die Folterkeller und Verließe der iranischen Revolution, in denen Isaac Amin altbekannten Gesichtern aus besseren Tagen begegnet. Er erlebt die täglichen Verluste der persönlichen Würde, sich in die eigene Kleidung entleeren zu müssen. Die permanente Angst, der Nächste zu sein, der zur "Vernehmung" geholt wird. "Wenn Dein Name nicht dabei ist, danke Gott, wenn er dabei ist, dann bete." Das Auslöschen von Existenzen, die in den Augen ihrer Peiniger ihren Wert verloren haben, wird zur schrecklichen Begleitmusik seiner Haft: "Auf seiner Pritsche liegend, hört er die Geräusche im Hof. Dann geht es los, einer nach dem anderen: Schreie, Flehen, Schüsseknallen, Körper, die dumpf zu Boden sacken - und Stille." Ausgerechnet seine Religionszugehörigkeit wird dem areligiösen Amin zum Vorwurf gemacht und damit zum Grund seines Martyriums: "Mutter, weißt du, dass dein besonderer Name mich gezeichnet hat? Dass ich in einer Zelle sitze, die nicht einmal zum Schweinestall taugt, meine Füße schon halb brandig, meine Augen schon halb erblindet, mein Körper ausgezehrt und verdörrt? Wofür bin ich jetzt der Beweis?"
Dieser Roman erzählt jedoch nicht nur die Geschichte von Isaac Amin, sondern auch die seiner Familie. So beschreibt Dalia Sofer auch die Aufarbeitung der Amin’schen Ehe, der die liebenswürdigen Gesten abhanden gekommen sind und die Erwartungen eher enttäuscht als erfüllt. Isaacs Frau Farnaz fühlt sich schon lang von ihm verlassen. Jeden neuen Anlauf und jeden Annäherungsversuch hat er schon im Ansatz unterbunden. Isaac wird erst in den dunklen Verließen bewusst, wie sehr er seine Frau liebt. Auch Farnaz scheint sich der Wichtigkeit ihres Mannes erst in vollem Umfang bewusst zu werden, als seine Rückkehr aus dem Büro ausbleibt. Von Bekannten erfährt sie, dass ihr Mann festgenommen wurde. Sie muss miterleben, wie die Welt um sie herum zerbricht und sie Zeugin des moralischen Verfalls der iranischen Gesellschaft, sowohl im Großen als auch im Kleinen, wird. Die soziale und gesellschaftliche Verwahrlosung geht mit der Machtübernahme der Mullahs einher, die nicht nur die Gedanken der Iraner zu bestimmen scheinen: "So viel Haar, denkt Farnaz - struppiges schmutziges Haar, dass überall im Land wie Unkraut über Kinne, Backen und Hälse wuchert."
Dieser Roman der amerikanischen Iranerin Dalia Sofer ist eine Anklage gegen staatliche Willkür, gegen Folter und Misshandlung sowie gegen blinde Religiosität. Dalia Sofer zeigt hier die Folgen schlechten staatlichen Handelns in dem familiären Mikrokosmos und verliert dabei nicht den Blick für das große Ganze. Immer wieder führt sie dem Leser die Tragödie der iranischen Revolution als solcher vor Augen, diese blinde Wut der Islamisten, die Missgunst und Argwohn zwischen Menschen gesät hat, welche vorher friedlich miteinander gelebt haben. Dabei beschönt sie nicht im Geringsten die Verhältnisse in der Zeit des Schahs. Dessen radikale und repressive Methoden werden von den mit Isaac inhaftierten Kommunisten vor Augen geführt, die unter dem Schah ebenso wie unter dem Mullahregime verfolgt wurden. Die alltäglichen Umwürfe lässt Sofer mitnichten aus; so rückt die Verwandlung der orientalischen Farbenpracht in die traurig-trübe Dominanz des allgegenwärtigen Schwarz dem Leser nahezu auf den Leib.
Farnaz Amin muss fassungslos mit ansehen, wie die ehemaligen Angestellten ihres Mannes, denen er durch die Anstellung eine sichere Existenz verschafft hat, Laden und Werkstatt plündern. Machtlos aber voller Wut entgegnet sie den Dieben: "Seit wann bist Du bitte schön "gläubig’? Vor ein paar Jahren kamst du noch in deinen engen Jeans bei uns an, um dir unser Auto zu leihen, wenn du eine deiner fünf Freundinnen abholen wolltest. Denkst du, dieser Bart da macht dich zu einem Mann Gottes? ... Und seit wann ist es Gottes Wille, dass man andere Menschen bestiehlt? Ihr seid nichts als ein Haufen Heuchler, zu plötzlich an die Macht gekommen, und jetzt könnt ihr nicht damit umgehen." Auch die Haushälterin beginnt, die Revolution und all ihre Folgen vor ihr zu verteidigen und Farnaz fühlt sich von allen Seiten bedroht und hintergangen. Enttäuscht muss sie auch hier feststellen, dass die alten Vertrauensverhältnisse der Vergangenheit angehören und sie auf sich allein gestellt ist. Ihre Heimat ist ein Ort der Denunzianten und Verleumder geworden. "Alle halten mit etwas hinterm Berg, denkt sie, in diesem Land, wo schon ein falscher Blick, ein falsches Wort, die falsche Religion einem zum Verhängnis werden kann. Die Heuchelei ist uns in Fleisch und Blut übergegangen - wir sagen das eine und meinen das andere."
Auch die Tochter der Amins, Shirin, hat mit den revolutionären Folgen zu kämpfen. Nicht genug, dass ihr Vater von einem auf den anderen Tag verschwindet, muss sie feststellen, dass der Vater ihrer besten Freundin Revolutionswächter ist. Er besitzt Akten, die festlegen, wer aus welchem Grund verhaftet und gefoltert wird. Heimlich entwendet sie einige der Akten aus dem Haus der besten Freunde. Dabei macht sie eine furchtbare Entdeckung: "In ihrem Zimmer breitet sie die Akten auf dem Tisch aus, und als sie auf dem Deckel der einen den Namen "Javad Amin’ liest, stürzt sie ins Badezimmer und übergibt sich. Hinterher, während ihre Mutter ihr das Gesicht sauber wischt, starrt sie auf ihr Spiegelbild, auf die Kirschspangen in ihrem Haar - Onkel Javads Abschiedsgeschenk. Sie möchte ihrer Mutter von den Akten erzählen, von seiner Akte, aber sie beißt sich auf die Zunge." Ihre Freundin wird unweigerlich von dem Vater für die Revolution begeistert. Es stehen sich hier zwei Kinder gegenüber, deren einer Vater der Revolution zum Opfer fällt, die der andere Vater ankurbelt und unterstützt. Als Shirin erfährt, dass sich ihre Freundin im Krieg gegen den Irak für ihr Land opfern würde und dies damit begründet, dass sie sich einen Schlüssel für das Paradies verdienen wolle, entgegnet sie ihr: "Wenn du ins Paradies kommst, macht dir Gott dann nicht die Tür auf? Wozu brauchst du noch einen Schlüssel?" Hunderttausende sogenannte Bassidsch wurden im Iran-Irakischen Krieg in die Minenfelder und damit in den Tod geschickt, um das zu erobernde Gelände vor dem heranrückenden Heer von Minen zu befreien.
Währenddessen verliert sich der Sohn der Amins, Parvis, in der Weite, Kälte und Anonymität New Yorks. Die Familie hatte ihn nach dem Sturz des Schahs in die amerikanische Metropole geschickt. Er erlebt das Drama seiner Angehörigen nur aus der Ferne und sein Leben scheint kaum davon betroffen zu sein. Allegorisch hat er mit einer diametralen Radikalität zu kämpfen. Er verliebt sich in die Tochter seines jüdischen Vermieters, die in einer aus Osteuropa stammenden, chassidischen Familie aufwächst. Rachel gehorcht allein den moralischen und streng religiösen Ansichten ihres Vaters. Ähnlich wie seine unter den Mullahs leidende Familie ist er fassungs- und hilflos ob der religiösen Dominanz ihrer Religion, die sich absurderweise in dem gleichen schwarzen Farbton ausdrückt, wie die des antisemitischen Mullah-Regimes: "Wie sträflich vergeudet solch zarte, hübsche Arme doch an die Frommen sind, denkt Parvis. Wozu solche Arme, wenn sie die von ihnen betörten nicht umarmen dürfen?" Sein Vermieter und Vater der Angebeteten bemerkt sehr wohl Parvis stilles Verlangen, schiebt einer Verbindung der beiden aber einen Riegel vor. Sie würde der jüdischen Religion als solcher Schaden, da sie den Glauben verwässere und so "die fette Sahne von einst wie Magermilch schmecken würde." So ergibt sich die wahnwitzige Konstellation zwischen Vater und Sohn, bei der das gleiche Maß des Jüdischseins einmal ein Zuviel und einmal ein Zuwenig darstellt, um in einer Gesellschaft glücklich leben zu können. Allerdings muss hier bemerkt werden, dass die New-York-Episoden anfangs unmotiviert und nahezu fehl am Platz wirken und sich erst im Laufe der fortschreitenden Lektüre mit der eigentlichen Geschichte in ein treffendes Verhältnis setzen lassen.
Die Autorin macht durch die ausführliche Schilderung der Erlebnisse und Gedankenwelt der Amins die Misere deutlich, die die Umbrüche der Revolution hervorgerufen haben. Sie hebt die Herausforderung für die Frauen hervor, deren Männer inhaftiert oder hingerichtet wurden und die nun in ihrer Not den frauenverachtenden bärtigen Revolutionswächtern gegenüberstehen. Sie malt die Konsequenzen für die Kinder der Verfolgten und Inhaftierten aus, deren beste Freunde nun auf einmal Feinde sein sollen. Und nicht zuletzt die innerfamiliären Differenzen, die von den Ereignissen der Revolution lediglich überdeckt und ruhig gestellt werden.
Isaac Amin kann sich nach monatelangen, ergebnislosen Befragungen und Misshandlungen freikaufen, indem er sein gesamtes Vermögen der Revolution zur Verfügung stellt. Seine Freilassung scheitert fast noch an der Unauffindbarkeit eines Personaldokuments, ohne das er seine Ersparnisse nicht abheben und den Revolutionären aushändigen kann. "Verlorene Geburtsurkunde, denkt er: Gibt es ein besseres Sinnbild für die Fragilität seiner Existenz?" Schließlich findet sich das Dokument und er übergibt seinen Peinigern sein Vermögen. Er verkauft anschließend sein gesamtes Hab und Gut, um die Hilfe von Schmugglern in Anspruch zu nehmen und mit seiner Frau und Tochter dem islamistischen Iran zu entkommen. Und auch wenn sich Isaac und Farnaz im Schmerz um ihre zurückgelassene Heimat einander wieder näher verbunden fühlen, so steht doch unauslöschbar eine neue Mauer zwischen ihnen, eine unüberwindbare Mauer gebaut aus Folter und Todesangst. "Ihr wird klar, dass ihr Mann von nun an das alleinige Anrecht aufs Unglücklichsein haben wird, aus dem simplen, unwiderlegbaren Grund, dass er im Gefängnis war, dass er dem Tod ins Auge geblickt hat, viele Male, dass er andere hat sterben sehen, sterben hören. Ihr eigener Kummer, unbedeutend gegen den seinen, wird unterdrückt werden müssen, wenn sie weiterhin miteinander leben wollen, weil zwischen ihnen schlicht kein Platz für soviel Schmerz ist."
Dalia Sofer ist mit "Die September von Schiras" ein fabelhafter Roman gelungen. Die Beschreibungen der iranischen Gefängnisse erinnern an Rafik Schamis Schilderungen der syrischen Folterzellen in seinem Erfolgsroman "Die dunkle Seite der Liebe". Sofer findet in ihrem Buch stets die richtige Mischung aus Melancholie und Traurigkeit, aus Verärgerung und Wut sowie aus Fassungslosigkeit und machtloser Demut. Der Leser wird unmittelbar in den Strudel der nachrevolutionären Ereignisse gesogen und kann sich aus diesem erst am Ende - gemeinsam mit den fliehenden Amins - befreien. Was diese zurücklassen ist nicht nur ihr gesamtes Hab und Gut, sondern vor allem ihre Identität. Dies macht die einmalig aufleuchtende Verbindung des Buchtitels mit der südwestlichen iranischen Stadt Schiras (besser bekannt als Namensgeberin der bekannten Weinrebsorte) deutlich. Es ist die Stadt der Jugend Isaac Amins, wo er seine Ferien verbrachte und später seine Frau kennenlernte. "Wenn dann der September kam und er seine Sachen packte und zurück nach Teheran fuhr, wusste er, dass er in acht Monaten wiederkehren würde. Anders als der gegenwärtige September trugen die September von Schiras die Verheißung der Rückkehr in sich."
Diese Buchbesprechung ist ursprünglich im Titel-Magazin erschienen.
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