Die lebensunfähige Generation
"Der Fernseher thronte auf einem niedrigen braunen Regal, über das Parkett flackerten die Schatten, der in sich zusammenstürzenden Türme, der Menschen, die sich von den Fassaden lösten und in den Tod sprangen. Gläser und Teller für mindestens dreissig Gäste standen auf dem Esstisch, aber die meisten waren nicht gekommen." - So beschreibt Katharina Hacker zu Beginn ihres neuesten Romans "Die Habenichtse" eine schon länger geplante Party in Berlin, die am Abend des 11. Septembers stattfindet. Jakob, der am Tag zuvor noch geschäftlich im World Trade Center zu tun hatte, ist Gast dieser Party und natürlich mit seinen Berichten über die Anschläge das Zentrum der Aufmerksamkeit. Zu den Gästen gehört auch Isabelle; während ihrer Studienzeit hatten Jakob und Isabelle eine Liebschaft. Sie hat ihn in der Zwischenzeit vergessen, während er, Jakob, sich die Frist von zehn Jahren gegeben hat, um Isabelle zurück zu gewinnen. Die Begegnung der beiden Hauptfiguren wird zusätzlich schicksalhaft, da Jakob für seine Anwesenheit an der Party ein Geschäfttermin im World Trade Center einem Kollegen überträgt, der bei den Anschlägen von New York ums Leben kommt.
Isabelle und Jakob beschliessen zu heiraten und Jakob erhält die Möglichkeit in London eine Stelle in einer Anwaltskanzlei anzutreten. So richtet sich das frisch vermählte Paar in einem viktorianischen Reihenhaus in Kentish Town ein. Die beiden führen das typische Leben von jungen, erfolgreichen und urbanen Menschen: Sie, Isabelle, arbeitet weiterhin für ein Berliner Grafik Büro und Jakob behandelt in der Anwaltskanzlei eines gewissen Bentham, einen Fall, bei dem es um die Rückerstattung von während der NS-Zeit enteigneten Immobilien geht. Abends geht man mit Allistair, einem Kanzleikollegen von Jakob, in einem der besseren Restaurants der Stadt essen, oder man geht ins Theater.
Während es äusserlich den Anschein haben mag, dass der Lebensentwurf des Ehepaars in den Mitdreissigern mehr oder weniger geglückt ist, so wird schnell klar, dass hinter dieser äusseren Fassade die Dinge aus dem Lot geraten. Der beruflichen Verwirklichung von Jakob und Isabelle und dem damit verbundenen materiellen Wohlstand steht eine krasse Gefühlskälte, ja manchmal die totale Abwesenheit eines emotionalen Lebens, gegenüber. Bei der Lektüre von "Die Habenichtse" stellt sich immer wieder das Gefühl ein, dass man es nicht mit Menschen aus Fleisch und Blut zu tun hat, sondern mit verblassenden Figurschablonen. Wo normalerweise Individuen die Position des agierenden und sich an der Welt (auf)reibenden Protagonisten einnehmen, bleibt diese Position in Hackers Roman eine Leerstelle. Die Beklemmung, die den Leser während des ganzen Romans überkommt, hat mit einer ganz bestimmten und von der Autorin meisterhaft durchgehaltenen Erzählhaltung zu tun: Die Gleichgültigkeit der Erzählerin gegenüber ihren Figuren lässt sich fast schon mit der berühmten Gleichgültigkeit von Kafkas Erzähler vergleichen.
Im weitern Verlauf der Geschichte beschreibt Hacker sozusagen die verschiedenen Terrains, auf welchen das Leben des jungen Ehepaars aus den Fugen gerät. Resultat jenes Auflösungsprozesses, der durch die schiere Passivität der Hauptfiguren zusammenhängt, ist stets die Gewalt. Quasi als Gegenfiguren führt Hacker Jim, Dave und Sara ein. Jim ist ein Kleinkrimineller und Drogendealer, der seine Junkie-WG verlassen hat und die Wohnung eines Freundes bezieht. Dave und Sara, zwei Geschwister, Kinder noch, die von ihrem Vater misshandelt werden. Zwischen Jim und Isabelle entwickelt sich eine sexuelle Anziehung, die allerdings unter dem Zeichen der Demütigung und Erniedrigung des Mannes über die Frau stattfindet. Jakob hingegen begibt sich in ein homoerotisches Abenteuer mit seinem Anwaltskollegen Alistair. Zum Schluss kulminiert das Eindringen der Gegenfiguren in das Leben des Ehepaars darin, dass das kleine Mädchen Sara zwischen die Fronten von Isabelle und Jim kommt und zum Opfer jener diffusen und unberechenbaren Gewalt der Erwachsenenwelt wird.
Am Beispiel des kleinen Mädchens Sara, das schlussendlich zum Opfer wird, kann eine weitere Erzählstrategie der Autorin dargestellt werden: Wie im Eingangszitat werden immer wieder welthistorische Begebenheiten, wie die Anschläge des 11. Septembers nahtlos an die private Welt des Ehepaars angeschlossen. Auch die Geschichte um Sara findet eine Parabolisierung und zwar in der Geschichte über ein irakisches Mädchen, das im Irakkrieg von einem amerikanischen Soldaten getötet wird. Das Eindrückliche daran ist aber, dass beide Gewaltakte in gleicher Weise unerklärt bleiben. Hacker ist meilenweit davon entfernt, ihre Figuren zu Opfern eines bestimmten Milieus zu machen. Sie beschreibt lediglich; sie beschreibt eine ebenso düstere, wie auch unerklärliche Lebensunfähigkeit unserer Generation.
Katharina Hacker hat mit ihrem Roman den Deutschen Buchpreis 2006 erhalten.

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