Ursprünge der Dritten Welt
Die meisten Geschichtsbücher klammern einen Faktor, der die Kolonisation massgeblich mitgeprägt hat, ziemlich konsequent aus: Von 1876 bis 1902 ereigneten sich in drei Phasen Dürre- und damit Hungerkatastrophen bis dahin unvorstellbaren Ausmasses genau in den Gebieten, die sich die Weltmächte einverleibten. Von den extremen Wetterbedingungen waren der gesamte Monsungürtel sowie der Norden Chinas und Afrikas betroffen. Seuchen setzten der geschwächten Bevölkerung zusätzlich zu. Man geht von 50 Millionen Toten aus.
Eine Situation, die ausgenutzt werden kann und auch wurde: "Begierig nutzten die europäischen Weltreiche zusammen mit Japan und den USA die Gelegenheit aus, um weitere Kolonien an sich zu reissen, Gemeindeland zu enteignen und neue Ressourcen für die Plantagewirtschaft und den Bergbau zu erschliessen." Die Hungersnöte waren aber nicht einfach Folge extremen Wetters, dieses war höchstens ein förderlicher Faktor, sie waren vielmehr eine Begleiterscheinung der gnadenlosen Anwendung der Prinzipien des liberalen Kapitalismus, der just in diesem Zeitraum auf Geheiss von London weltweit Fuss fasste. Die Einbindung der Landwirtschaft in die globalen Märkte zerstörte lokale Strukturen der Nothilfe, zum Beispiel auf Basis von Getreidevorräten, die auch Armen das Überleben ermöglicht hatten.
Mit den Zusammenhängen, die zu diesem weltweiten Drama geführt haben, das so gar nicht in den Geschichtsbüchern erwähnt wird, setzt sich der amerikanische Historiker Mike Davis detailliert auseinander. Sein Anliegen ist klar: Einerseits will er die verschwiegene Tragödie zu Papier bringen, andererseits will er aufzeigen, dass nicht einfach dem Klima die Schuld in die Schuhe geschoben werden kann, sondern dass es insbesondere die weltökonomischen Umbrüche jener Zeit waren, die so vielen Menschen das Leben kosteten.
An Belegen für die "unheilvolle Wechselbeziehung zwischen klimatischen und ökonomischen Prozessen" mangelt es dem Autor nicht. Auf den ersten knapp 200 Seiten zeigt er anhand zahlreicher Beispiele auf, wie es möglich war, dass Millionen an Hunger sterben, während beispielsweise England riesige Mengen Getreide importierte, mit denen Missernten hätten ausgeglichen werden können. Anschliessend beleuchtet Davis die Rolle des Klimas. Er legt dar, wie die Wissenschaft die ungewöhnlichen klimatischen Ereignisse anhand der sogenannten "El Niño-Southern Oscillation" (ENSO), die mit den Schwankungen der Meerestemperaturen zusammenhängt, erklärt. Der abschliessende Teil stellt sozusagen die Erkenntnis aus den gewonnenen Informationen dar und geht speziell auf Davis' Kernthese zur "Geburt der Dritten Welt" ein, die besagt, "dass das, was wir heute (…) die "Dritte Welt" nennen, ein Produkt der Einkommens- und Vermögensungleichheiten ist - der berühmten "Entwicklungslücke", die vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden ist, als man begann, die grossen Bauernschaften ausserhalb Europas in die Weltwirtschaft zu integrieren." Abschliessend befasst sich Davis mit drei Fallstudien zu Indien, China und Brasilien.
Das Buch sollte Pflichtlektüre für Geschichtslehrer und alle blinden Globalisierungseiferer sein, die alle Macht dem globalen Markt überlassen wollen und dabei die Verlierer, die es zweifelsohne gibt, vergessen. Im Stil eher eine Erzählung als eine wissenschaftliche Abhandlung - Mike Davis scheut sich nicht, starke Formulierungen und Wörter zu verwenden, bietet das Werk kurzweilige, erkenntnisreiche Lektüre. Der Inhalt ist allerdings nicht leicht verdaulich, wozu auch die Fotografien und Zeichnungen, mit denen das Buch dezent illustriert wurde, ihren Beitrag leisten.
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