An der Schwelle zur Unabhängigkeit
Der erste Teil von Abdulrazak Gurnahs Roman "Die Abtrünnigen" spielt 1899 in Sansibar und beginnt damit, dass der Krämer Hassanali auf seinem allmorgendlichen Weg zur Moschee plötzlich einen Schatten bemerkt. Zuerst hält er diesen für einen bösen Geist. Doch als das Wesen seufzt und stöhnt, gibt es sich damit ohne Zweifel als menschliches Wesen zu erkennen. Der Fremde ist ein britischer Kolonisten namens Martin Pearce - "erschöpft, verloren, der Körper ausgemergelt, Gesicht und Arme von Schnitten und Bissen übersät." Hassanali bringt ihn in sein Haus. Dort pflegt ihn dessen schöne Schwester Rehana gesund. Rehana und Martin kommen sich näher, werden heimlich ein Liebespaar - und von beiden Kulturen zu Aussätzigen erklärt: "Die imperiale Welt legte strenge Maßstäbe dafür an, was sich in Sachen Sex geziemte."; "Er (Hassanali) muss ihr (Rehana) den Vorwurf gemacht haben, dass sie jedes Gefühl für Anstand verloren und das Maß des Erträglichen überschritten hätte."
Die Beiden fliehen nach Mombasa und leben offen in wilder Ehe zusammen bis Pearce sie eines Tages verlässt. "An irgendeinem Punkt war Pearce zur Vernunft gekommen und hatte sich auf den Weg nach Hause gemacht."
Gab es bisher nur einen auktorialen Erzähler, wechselt die Erzählperspektive für 14 Seiten zu einem unbenannten Ich-Erzähler, der so über die Geschehnisse spricht, dass man den Eindruck erhält, dass er alles miterlebt hat. Doch erst viel später erfährt man, wer der Unbekannte ist.
Ohne jede weitere Vorwarnung springt der Autor nun aus dem Jahr 1899 zum Ende der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Diesmal erzählt er die Liebesgeschichte von Jamila und Amin, die auch unter keinem guten Stern steht.
Unvollständige Geschichten
Mehrdimensionale Erzählweise und die Verknüpfung von Handlungssträngen über Jahrhunderte hinweg wird von Abdulrazak Gurnah nicht neu erfunden, sondern nur ungewöhnlich eingesetzt. Im ersten Teil des Romans taucht eine ganze Reihe von interessant konzipierten Figuren auf. Doch bleibt der Leser plötzlich in der Luft hängen, denn ohne erkennbare Motivation endet die Geschichte von Rehana und die von Jamila beginnt. Man ist gedanklich noch bei den Protagonisten des ersten Teils und versucht, die vom Autor harsch beendete Geschichte zu verarbeiten, emotional und rational einzuordnen, da kehrt er diese wie Essensreste vom Teller und setzt dem Leser flugs ein neu angerichtetes Mahl vor. Doch eine Vielzahl von Fragen beherrscht weiterhin das Denken. Beispielsweise die Frage, warum sich die beiden Liebenden trennen: lag es an Unstimmigkeiten, geboren aus den unterschiedlichen Kulturen oder religiösen Differenzen? Oder liebte Martin sie gar nicht, sondern betrachtete die Affäre als exotisches Intermezzo? Wurde der Druck der öffentlichen Meinung (man bedenke - 1899) zu stark und Martin wusste sich den Konsequenzen nur durch Flucht zu entziehen?
Im nächsten Teil des Buches werden einige Dinge erklärt. Doch statt der Befriedigung der natürlichen Neugier werfen diese nur neue ungeklärte Fragen auf, die auch bis zuletzt wie Gräserpollen im Raum stehen bleiben und zu einem ständigen mentalen Jucken führen. Durch seinen teils fast nüchternen Erzählstil trägt der Autor nicht dazu bei, das Prekäre dieser Situation zu entschärfen. Da hilft es auch wenig, dass sprachliche Eigenheiten in Kursivschrift gesetzt werden, um eine heimelige Atmosphäre zu schaffen. Zum einen liegt dies daran, dass man ständig im Glossar nachschlagen muss, was denn dieses Wort nun wieder bedeutet; zum anderen werden leider nicht alle Begriffe erklärt: "Limemkausha na kumtia kizunzungu" sagt die Dorfheilerin Mamake Zaituni auf Seite 25, ohne das eine weitere Erklärung folgt. Die Wahrung von Authentizität ist ja ein hehres Ziel. Allerdings schießt Abdulrazak Gurnah durch den übertriebenen Einsatz einheimischer Idiome über dieses hinaus; der gewünschte Effekt verpufft und schlägt ins Gegenteil um.
Mehrdeutiger Titel
Der sich aus dem Titel "Die Abtrünnigen" ergebende Kontext bezieht sich nicht nur auf die Liebesgeschichten. Viele politische und gesellschaftliche Entwicklungen finden im Roman ihren Anklang und viele der Protagonisten können auf die eine oder andere Art als Abtrünnige definiert werden: sei es das Verbot des Sklavenhandels durch die britische Kolonialmacht; die Bemühungen von Sansibar nach Unabhängigkeit; das Leugnen althergebrachter Sitten und Gebräuche; das Abwandern der Bevölkerung nach England und vieles mehr. Durch die gelungene Einbettung all dieser Komponenten in den Gesamtzusammenhang gewinnt der Roman deutlich an Komplexität und einem realitätsnahen und glaubhaften Gesamtbild Sansibars an der Schwelle zur Unabhängigkeit. Nur die vorgenannten Einschränkungen verhindern, dass dieser Roman als Abdulrazak Gurnahs Meisterwerk betrachtet werden kann. Wenn man schon dieses Prädikat vergeben wollte, ginge es immer noch an "Das verlorene Paradies".
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