Die Wokeness-Illusion

Kritik der Identitätspolitik

Der Begriff "Political Correctness" verfügt mittlerweile schon über ein gewisses Maß an Patina – und ist in der politischen sowie medialen Landschaft seit Jahrzehnten präsent. Abgelöst oder fortgeschrieben wird dieses vermeintlich aufklärerische Sprach- und Denkmodell von einem Phänomen, das "Wokeness" heißt und, mit den Worten des Herausgebers Alexander Marguier gesagt, in der Gestalt eines "moralischen Absolutheitsanspruchs" auftritt. Hierzu gehört etwa die öffentlich nahezu omnipräsente Gendersprache, an deren Stelle in diesem Band in bewährter Form das generische Maskulinum tritt. Eine aufmerksame Leserschaft wird nicht nur hierfür, sondern auch für die wirklichkeitsorientierten Analysen in diesem Band dankbar sein.

In den letzten Wochen und Monaten vernahm die interessierte Öffentlichkeit Protestaktionen von der sogenannten "Letzten Generation". So wurden Flughäfen blockiert, Klimaaktivisten durchschnitten Drahtzäune und verhinderten Starts und Landungen von Flugzeugen. Bernd Stegemann schreibt in diesem Band, die "woke Ideologie" wache genau darüber, wem "diese Waffe zusteht", also wer auf welche Weise protestieren darf: "Wenn sich Menschen auf die Straße kleben würden, um gegen ungesteuerte Migration zu protestieren, würden die woken Aktivisten diese Erpressung des Staates vehement ablehnen. Sie würden nach der Polizei rufen und lange Haftstrafen für die Protestkleber verlangen. Ebenso wäre die Kulturwelt über die Barbaren empört, die Bilder mit Lebensmitteln bewerfen, um etwa gegen Coronamaßnahmen zu protestieren. Die Protestlogik steht also nur der eigenen Meinung zu."

"Die Protestlogik steht also nur der eigenen Meinung zu."

Auch die "Angst vor dem Klimawandel" gelte als "absolute Wahrheit", die jeglichen Einspruch verbiete. Alexander Marguier übt dezidiert Kritik an den identitätspolitischen Diskursen und Debatten in der Gegenwart. Wer dem Zeitgeist oder eher dem Mainstream heute, der "Wokeness", huldigt, steht ein für "ein in hohem moralischem Ton vorgebrachtes antiaufklärerisches Glaubensbekenntnis". Wer dagegen opponiert, läuft Gefahr, politisch und gesellschaftlich stigmatisiert zu werden.

Beobachtet wird die zunehmende Marginalisierung klassischer linker oder ehemals linker Parteien, die heute besonders von "identitätspolitischem Eifer" getrieben sind. Marguier stellt fest: "Wer seiner potenziellen Wählerschaft unentwegt einredet, Transphobie oder ein binäres Geschlechtermodell wären die eigentlichen Herausforderungen unserer Gesellschaft, oder jeden unter Rassismusverdacht stellt, der als hellhäutiger Geringverdiener an seiner eigenen vermeintlichen Privilegiertheit zweifelt, braucht sich über mangelnden Zuspruch nicht zu wundern. Schlimmer noch: Der Erfolg eines rechtspopulistischen Demagogen wie Donald Trump wäre ohne die ideologischen Exzesse des woken Milieus mit seiner wenig verhüllten Verachtung gegenüber der weißen Arbeiterschaft kaum denkbar gewesen." Marguier nennt insbesondere auch die "Unversöhnlichkeit" in dem "Kampf der Identitäten": "Wenn jemand das Recht abgesprochen werden soll, überhaupt seine Meinung zu artikulieren, nur weil er oder sie nicht einer bestimmten Minderheit angehört und damit nicht über die entsprechende (potenzielle) Diskriminierungserfahrung verfügt, ist kein zielführender Diskurs mehr möglich." Die "identitätspolitische Agenda" herrsche vor, ebenso die "verordnete Gendersprache an Universitäten". Schneidig formuliert Marguier: "Der Wokeismus hat mit seinem moralischen Absolutheitsanspruch vor allem das Ziel, sich die resiliente Bevölkerungsmehrheit zu unterwerfen und Widerspruch dauerhaft zu unterbinden." Der Leser fragt sich skeptisch: Ist es wirklich schon dazu gekommen? Beobachtet wird sicher eine Vermehrung von Identitätsdiskursen, die nahezu jegliche Diskussion über die politische Ökonomie oder auch Armut verdrängt haben. Zugleich stellt sich die berechtigte Frage, ob der Gebrauch der gendersensiblen Sprache wirklich real bestehende Diskriminierungen beseitigt und der Emanzipation dient – und wenn ja, dann wessen Emanzipation? Marguier diagnostiziert im Grunde eine verbreitete Entfremdung vom objektiven Wahrheitsbegriff und die Diktatur des Relativismus, die Herrschaft der "gefühlten Wahrheiten".

Mitverantwortlich, ja maßgeblicher Inspirator der gegenwärtigen Identitätspolitik ist der französische Soziologe Michel Foucault, dessen Arbeiten Ralf Hanselle in seinem Beitrag kritisch erörtert. Präzise beschreibt er dessen Ansatz: "Was und wer wir sind, können wir per Willensentscheidung festlegen." Der Körper und biologische Grundkonstanten werden damit zur Verfügungsmasse einer vermeintlich autonomen existenziellen Entscheidung. Das "äußere Herantragen von Definitionskriterien" – etwa die Bezeichnung Mann oder Frau – wird als "Gewaltakt" aufgefasst. Foucaults Theorien wurden und werden kritiklos zitiert, beherzigt, adaptiert und glorifiziert – von Politikern, Kirchenfunktionären, Medienmachern und großen Wirtschaftsunternehmen. Ob Foucaults Werk wissenschaftlich ernst zu nehmen ist und die daraus abgeleiteten politischen Konsequenzen sinnvoll sind, steht dahin.

Der US-Politologe Francis Fukuyama hat, bemerkt Hanselle, zutreffend festgestellt, dass es für die Linke heute leichter sei, "über kulturelle Fragen zu streiten, als die Einkommen zu erhöhen oder die Möglichkeiten von Frauen und Minderheiten außerhalb des Elfenbeinturms zu erweitern".

Die "korrekte Setzung von Gendersternchen" sei ein dankbares Thema für Diskurse, so Hanselle, während das "reale Einkommensgefälle zwischen Männern und Frauen" unbeachtet bleibt.

Die "korrekte Setzung von Gendersternchen" sei ein dankbares Thema für Diskurse, so Hanselle, während das "reale Einkommensgefälle zwischen Männern und Frauen" unbeachtet bleibt. Ben Krischke stellt die "Identitätspolitik der Ampel" dar, also der amtierenden deutschen Bundesregierung, die sich einem "auf Minderheiten ausgerichteten Kurs" verschrieben habe und ein "postfaktisches Geschlechtersystem" vertrete: "Welches Geschlecht jemand hat, würde nicht mehr die Biologie entscheiden, sondern jeder und jede für sich; allein auf der Basis eines Gefühls." Künftig, so legt Krischke dar, könne dann jeder biologische Mann "legal in Schutzräume für Frauen vordringen", solange er sich als Frau fühle: "Mehr Freiheit für den einen heißt nicht unbedingt mehr Freiheit für andere." Der Autor spricht von einer "ideologischen Weltsicht". Betrieben werde nach Auffassung von Bernd Stegemann zudem eine "Anerkennungspolitik": "Statt Geld gibt es Respekt. … Statt ausreichenden Unterricht gibt es in Berliner Schulen nun eine Toilette für das dritte Geschlecht und statt guter Bezahlung gibt es Applaus für Pflegekräfte."

Die "woke Ideologie" sei gekennzeichnet durch eine "robuste Einfachheit", mit der Menschen heute sortiert werden können – "in Gut und Böse": "Gut sind die Gruppen, die einen Opferstatus haben. Schlecht sind die Gruppen, denen ein Täterstatus zugeschrieben wird. … Wer woke auf die Welt schaut, sieht sich selbst als fortschrittlich an und ist von der Mission erfüllt, seine Wachheit allen anderen mitzuteilen. Die abschließende Formel der woken Ideologie lautet: Wer das Woke kritisiert, ist automatisch rückschrittlich und darum böse." Wer pekuniäre Not nicht kennengelernt hat oder gegenwärtig erfährt, verfügt über genügend Freiräume, sich über müßige Fragen zur Identität im Kosmos der Wokeness angeregt auszutauschen.

Die herrschende "woke Ideologie" wird in diesem Band als "moralischer Populismus" bezeichnet, charakterisiert und beispielhaft benannt. Die Autoren tun dies pointiert, mitunter schneidig und manchmal polemisch. Eine kritische Diskussion über die gesellschaftlich bestimmende Identitätspolitik und ihre Folgen wäre dringend nötig. Dieses Buch ist ein wichtiger Beitrag zu einer solchen Debatte, die nicht nur in Deutschland, sondern in den westlichen Demokratien überhaupt heute geführt werden sollte.

Die Wokeness-Illusion
Ben Krischke (Hrsg.)
Die Wokeness-Illusion
Wenn Political Correctness die Freiheit gefährdet
128 Seiten, gebunden
Herder 2023
EAN 978-3451395567

Autobiografische Literatur in ihrer besten Ausformung

Ein Meisterwerk der Gattung Autobiographie stammt aus dem Bregenzerwald, von Franz Michael Felder, Bauer und Schriftsteller.

Aus meinem Leben

Baldwin von seiner wütenden und seiner zärtlichen Seite

Eine Essaysammlung zeigt James Baldwin als Sohn und Onkel, aber vor allem auch als Bürger, Sohn eines Landes, den USA.

Von einem Sohn dieses Landes

"Wir sind alle androgyn"

Aguigah hat eine aufsehenerregende, andere Biographie geschrieben, die sich James Baldwin anhand seiner Texte nähert und zeigt, wie modern Baldwin auch heute noch ist.

James Baldwin

Zwischen Blow und Puff

Ein ambitioniertes Biopic über Amy Winehouse mit viel Musik, Atmosphäre und London als Heimstadt der (Alb-)Träume

Back to Black

Eine Fotografie und seine Wirkung

Eine interessante Buchreihe des Schirmer/Mosel-Verlages widmet sich ikonischen Fotografien und ihren Interpretationen.

Blick von Williamsburg, Brooklyn, auf Manhattan, 11. September 2001

Leben wir in einer woken Gesellschaft?

Herrscht gegenwärtig der linke Wokismus? Susanne Schröter fürchtet einen neuen "Sog des Totalitarismus". Stimmt das – oder übertreibt die Autorin maßlos?

Der neue Kulturkampf